Geschlechtsfragen

Unter dem Hashtag #solidaritätmittessa wird auf Twitter die Diskriminierung von Transfrauen diskutiert. Anlass ist die Debatte zum internationalen Frauentag am 8. März. Im Rahmen der Debatte äußerte sich Frau von Storch in sattsam bekannter, wirklich diskriminierender Art und griff Tessa Ganserer, eine Abgeordnete der Grünen, massiv an – weil sie transgender ist.

Über Frau von Storch kann ich mich nicht mehr aufregen, dazu ist mir wirklich meine Zeit zu schade. Ja, ich weiß, eigentlich müsste ich mich hier länglich über die Gülle auslassen, die sie über dem Haupte all derer auskippt, die nicht ihrer Meinung sind. Ich lasse es. Dazu gibt es im Internet genug zu lesen und ich will dieser Frau nicht mehr Raum bieten als sie sowieso schon hat.

Dummerweise habe ich meine Probleme mit einem hartgesottenen Grüppchen vorwiegend biologisch und sozial weiblicher Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, die das soziale Geschlecht nutzen, um Keile zu treiben – und bin deswegen mal wieder auf mich selbst reingefallen. Anlass war ein Tweet mit folgender Aussage:

Ich soll einen biologischen Mann als Frau bezeichnen, gleichzeitig soll ich mich als ‚Mensch mit Uterus‘ bezeichnen lassen und akzeptieren, dass Menschen mit Penis in Frauenschutzräume eindringen dürfen.
Einfach nur noch ‚Nein‘

So wird das nix.

#SolidaritaetMitTessa

Zugegeben, ich hatte mich mit dem Problem, das die Äußerungen über Tessa Ganserer erzeugt hatte, nicht wirklich beschäftigt, hatte auch die Debatte im Bundestag zu dem Thema weitgehend ignoriert. Das war ein Fehler, vor allem, was den Retweet anbelangt. Fangen wir also mit der Ecke an:

Liebe Frau Ganserer, es tut mir wirklich leid, wenn der Eindruck entstanden sein sollte, dass ich die Identität, die Sie für sich gewählt haben, nicht anerkennen würde. Das ist ganz bestimmt nicht der Fall. Mich regt etwas ganz anderes auf.

Und jetzt zum aufregenden Teil der Geschichte:

Ich oute mich jetzt mal als sprachlich konservativ. Das heißt, dass ich keinen Sinn darin sehe, die Sprache als Veränderungsmechanismus für gesellschaftliche Probleme zu nutzen. Dass ich damit zwar nicht ganz allein, aber auch nicht unbedingt in der Überzahl bin (vor allem in sozialen Medien), ist mir klar. Grundsätzlich ist mein Motto „Leben und leben lassen“ – wer findet, dass es ihn (oder sie) weiterbringt, wenn Wörter Binnen-Is, Gendersternchen oder sonstige Sonderzeichen enthalten, die dafür sorgen, dass sich alle mitgemeint fühlen, soll das halt machen. Ich muss ja nicht lesen, was diese Menschen schreiben, insofern ist das schon ok. Das einzige, was mich daran wirklich stört, ist die fehlende Rücksichtnahme auf Menschen mit Behinderungen, beispielsweise Blinde und Legastheniker, die damit nicht unbedingt gut zurechtkommen. Das habe ich schon oft angesprochen, wurde deswegen auch oft frauenfeindlich oder queerfeindlich genannt – nun, dann ist das so. Ich finde es rücksichtslos, auf Kosten einer Gruppe auf eine andere Rücksicht zu nehmen. Wenn das „feindlich“ sein soll, ja, dann bin ich wohl „feindlich“. Ich selbst schreibe und spreche meistens mit dem generischen Maskulinum, wenn ich alle meine. Das muss niemand akzeptieren, das darf gerne angeprangert werden, für mich ist es die einfachste Methode.

Neuerdings hat man sich im ZDF wohl auch darauf geeinigt, das Binnen-I (oder den Genderstern, wie auch immer) mitzusprechen. Für mich hört sich das an, als hätte der Sprecher (bzw. die Sprecherin) Schluckauf. Ich stolpere regelmäßig darüber und hänge dann dem, was mir vermittelt werden soll, ein Stück hinterher. Aber auch hier: Ich muss ja nicht. Vielleicht gewöhne ich mich ja auch irgendwann daran. Heißt: Es stört mich, sicherlich. In der Aufnahme von Informationen, im Lesefluß. Manchmal nervt es mich. Normalerweise lasse ich die Leute, aber wenn mich das zum Feind macht, siehe oben.

Wofür ich kein Verständnis habe, sind Toleranzforderungen, die an mich herangetragen werden (ebenfalls aus sozialen Medien heraus). Es gibt einfach Toleranzen, die ich nicht leisten kann. So wurde mir erklärt, dass ich mit einer Frau, die sich als Mann definiert, sexuellen Umgang haben müsste, weil ich sonst transfeindlich wäre. Nun, ich bin definitv heterosexuell und auch etwas prüde. Das bedeutet, dass ich eben nicht mit jedem Sex haben möchte, der mir so über den Weg läuft. Voraussetzungen für Sex sind bei mir Liebe und Vertrauen. Sehr großes Vertrauen, übrigens. Das bedeutet, dass ich noch nicht mal mit jedem biologischen Mann, der sich als solcher definiert, Sex haben möchte. Die Anzahl dieser Männer ist tatsächlich ausgesprochen klein (derzeit liegt sie bei 0). Und mit wem ich Sex habe, geht eigentlich auch keinen etwas an. Würde mich jetzt also ein Transmann zum Sex bewegen wollen, würde der vermutlich auf Granit beißen. Das hat mit Trans oder nicht Trans nichts zu tun. Es hat was damit zu tun, dass Vertrauen aufgebaut werden muss und das geht nicht im Verlauf eines Kneipengesprächs.

Insgesamt ist Sex – und damit das biologische oder soziale Geschlecht – meiner Mitmenschen größtenteils vollkommen uninteressant. Viel wichtigere Fragen sind: Mag ich diesen Menschen? Kann ich mit diesem Menschen gut zusammenarbeiten? Verstehe ich mich mit diesem Menschen gut? Und da ist sowohl Sex als auch Geschlecht ein vollkommen nachrangiger (um nicht zu sagen irrelevanter) Aspekt.

Was mich ebenfalls nervt, ist die Forderung, dass Transfrauen, die einen Penis haben, gefälligst Fraueneinrichtungen benutzen zu dürfen haben. Ich kann es verstehen, habe aber ein Problem: Trigger. Wenn ich in die Sauna gehe, weiß ich, dass da auch Männer (will heißen: Menschen mit Penis) sind. Ich bin vorbereitet, ich weiß das, alles gut. Wenn eine Transfreundin mit mir ins Schwimmbad ginge und wir in die Dusche gingen, wäre das für mich (bei anderen mag das anders sein) auch kein Problem. Ich weiß, dass sie einen Penis hat, ich bin vorbereitet. Wenn ich aber unvorbereitet in einem Schutzraum für Frauen einem Menschen mit Penis über den Weg liefe, würde es mich erst einmal von den Füßen holen, denn das ist ein Trigger. Ich bin damit ziemlich sicher nicht allein. So, und was machen wir jetzt? Wenn Duschkabinen vorhanden sind und man seine körperliche Reinigung in Abgeschiedenheit erledigen kann, wäre das für mich völlig okay. Nur plötzliche Begegnungen sind halt nichts, womit ich klarkomme. Wen trifft das schlimmer – mich oder die Transfrau, die sicher nicht vorhat, mich zu triggern? Und wenn Transfrauen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen in die Herrendusche gezwungen werden, was passiert ihnen dann? Will ich daran schuld sein, dass sie dort getriggert werden? Sicher nicht. Das Problem ist also vielschichtiger als man auf den ersten Blick meinen sollte.

Und dann sind da auch noch diejenigen, die von Menschen mit Uterus, von Cervixbesitzerinnen und dergleichen reden. Das ist sicherlich gut gemeint. Soweit ich bisher sehen kann (ich habe jetzt nicht nachrecherchiert) sind die meisten dieser Leute Frauen. Es gibt dann auch noch Männer, die solche Geschlechtsteile ihr eigen nennen, sicher, und es gibt auch intersexuelle Menschen, ja, klar. Aber die meisten von uns sind eben nicht nur Besitzerinnen weiblicher Geschlechtsmerkmale, sondern in der Tat Frauen. Und mein Problem besteht, wenn ich mich nicht mehr Frau nennen soll, weil ich damit einen Transmann diskriminieren könnte. So weit geht die Liebe dann nicht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Transmänner das von mir verlangen würden. Meiner Erfahrung nach sind die, die das tun, größtenteils mit dem Geschlecht zur Welt gekommen, mit dem sie sich auch identifizieren und durchaus heterosexuell. Das ist aber nur meine Erfahrung, es mag auch alles ganz anders sein.

Zusammenfassend: Das Geschlecht anderer Leute interessiert mich im Alltag nicht und ich halte Leute wie die eingangs erwähnte Frau von Storch, die sich darüber Gedanken machen zu müssen meinen, für armselige Tröpfe. Mein Geschlecht hat im Alltag niemanden zu interessieren, ebensowenig meine sexuellen Vorlieben. Wichtig ist, wie gut wir uns verstehen, ob wir gut miteinander umgehen können und wie wir zusammenarbeiten. Das macht soziales Miteinander aus. Wenn mich das trans- oder queerfeindlich macht, dann ist das eben so.

Internationaler Tag gegen Genitalverstümmelung

Rasierklinge mit Blut

Vorneweg: Bei diesem Tag geht es um die „Beschneidung“ weiblicher Genitalien, die diverse Ausprägungen haben kann. Das zieht nach sich, dass viele Männer, denen aus religiösen oder kulturellen – also nicht medizinischen – Gründen die Vorhaut entfernt wurde, jedes Jahr wieder darauf aufmerksam machen, dass ihnen hier auch ein Trauma und ein Unrecht zugefügt wurde. Das ist richtig, aber es gibt Unterschiede. Fangen wir also mit den Frauen an, die haben heute einfach Vorrang.

Laut WHO gibt es vier Typen der Genitalbeschneidung bei Mädchen bzw. Frauen. Allen ist gemeinsam, dass Schleimhäute in der Vagina ganz oder teilweise entfernt werden; oft wird die Klitoris ganz oder teilweise entfernt. Männer können sich das ungefähr so vorstellen, als ob nicht nur die Vorhaut beschnitten würde, sondern auch gleich die Eichel ganz oder teilweise entfernt würde. Ich gehe jetzt nicht weiter auf die einzelnen Methoden ein, dazu gibt es genügend Quellen im Internet, die man in Suchmaschinen mit den Suchwörtern „Beschneidung“ und „Frauen“ findet.

Was erschreckend ist, ist die Tatsache, dass gut 80% der Beschneidungen von Menschen durchgeführt werden, die keinerlei medizinische Ausbildung haben. Auch Hygiene ist hier keinerlei Kriterium, ebensowenig Narkose. Werkzeuge sind Messer, Rasierklingen, Scheren, Glasscherben und ähnliches. Das Werkzeug wird weder desinfiziert noch wird es gereinigt, wenn es vorher bereits für die Beschneidung eines anderen Mädchens benutzt wurde. Das führt zur Übertragung von Krankheiten und Infektionen. Die Wunde wird dann mit Akaziendornen, Bindfäden, Tierdarm, Eisenringen oder ähnlichem verschlossen und mit Mitteln wie Asche, Kräutern, Pflanzensäften oder Blättern versorgt, um die Blutung zu stoppen.

Neben der langfristigen Einschränkung des sexuellen Empfindens sind hier vor allem Sepsis, Fisteln, Zysten, Infekte des Harntrakts und Störungen der Blasenentleerung Komplikationen, die erwartet werden können. Zudem sind Mädchen vom Kleinkindalter bis in die Pubertät betroffen. Das Trauma, das eine derart schmerzhafte Prozedur erzeugt, ist kaum zu ermessen.

Langfristige Komplikationen ergeben sich vor allem bei den dann erwachsenen Frauen, denn der Geschlechtsverkehr ist oft sehr schmerzhaft und auch unter der Geburt gibt es vielfache Probleme, die ohne „Beschneidung“ nicht vorhanden wären.

Nun stehen Gesetzgeber und Gesellschaften vor demselben Dilemma, das es auch bezüglich der Beschneidung von Jungen gibt: Natürlich kann man das alles verbieten und unter Strafe stellen. Grundsätzlich sind medizinisch nicht notwendige Eingriffe in den Körper zu vermeiden. Das hält aber Menschen, die ihre Kinder aus traditionellen, gesellschaftlichen oder religiösen Gründen solch grausamen Prozeduren unterziehen, nicht davon ab. Der Grund ist, dass das eine gesellschaftliche Ächtung des Kindes oder gleich der ganzen Familie zur Folge haben kann. Man wird ausgestoßen aus dem sozialen Kreis, in dem man sich befindet. Das kann man eventuell in einer Großstadt hinnehmen, nicht aber in einem Dorf, in dem jeder jeden kennt und alle alles wissen. Und so ist die einzige Methode, die hier zur Verfügung steht, die Aufklärung. Die erweist sich aber als schwierig, denn Mythen leben entsetzlich lange und Menschen klammern sich an sie – das sehen wir derzeit auch sehr gut an der „Diskussion“ um Corona, Impfungen und weitere Maßnahmen.

Fest steht, dass eine Beschneidung, egal ob bei Mädchen oder bei Jungen, keinerlei hygienische Vorteile hat. Im Gegenteil: Jeder Eingriff birgt ein Infektionsrisiko, selbst wenn er unter sterilen Bedingungen im Krankenhaus von einem Arzt durchgeführt wird. Unter den oben beschriebenen Bedingungen ist das Infektionsrisiko kaum noch Risiko zu nennen – es handelt sich dabei eher um eine Infektion mit Sicherheit. Bei Mädchen besteht ein hohes Risiko, unfruchtbar zu werden. Außerdem sind natürlich Nierenschäden und schmerzhafte Infekte des Urogenitaltraktes an der Tagesordnung. Das Risiko, an der „Beschneidung“ zu versterben, ist für Mädchen ungleich höher als für Jungen, aber auch bei Jungen gibt es Komplikationen von Nekrosen über den Verlust des Penis bis hin zum Tod, ganz klar.

Insofern bitte ich alle Eltern, die darüber nachdenken oder sogar entschlossen sind, so eine Prozedur an ihrem Kind ausführen zu lassen: Lassen Sie es sein. Es ist einfach das Risiko nicht wert, egal, was die Gesellschaft, die Verwandtschaft, die religiösen Ratgeber sagen. Das Trauma, das entsteht, ist zu groß. Wenn Ihre Kinder erwachsen sind, können sie für sich entscheiden, ob sie so eine Prozedur an sich durchführen lassen wollen. So viel Zeit sollten sie ihnen geben.

Weltreligionstag

symbolbilder der Weltreligionen

Morgen ist Weltreligionstag. Das heißt, eigentlich heute, denn ich werde den Text, den ich heute schreibe, natürlich erst morgen veröffentlichen. Also ist heute Weltreligionstag. Ist ja eigentlich auch egal, aber ich weiß nicht recht, wie ich diesen Text anfangen soll, also rede ich erstmal ein wenig um den heißen Brei herum. Ja.

Dieser Weltreligionstag wurde 1950 durch die Nationale Geistliche Versammlung der Bahai der Vereinigten Staaten initiiert und wird seitdem jährlich gefeiert. Ja. Ich habe Fragen. Fangen wir mal mit der ersten an: Wer sind denn bitte die Bahai?

Ein gewisser Bahāʾullāh gründete das Bahaitum Mitte des 19. Jahrhunderts als universale Religion. Hehres Ziel ist, die Erde als „nur ein Land und alle Menschen seine Bürger“ zu betrachten. Die Religion ist monotheistisch, glaubt an einen allwissende und allliebenden Gott. Das ist übrigens das, was mir immer kalte Schauer den Rücken heruntergejagt hat: Gott weiß alles und sieht alles. Sozusagen permanente, totale Überwachung und wehe, du machst was, was Gott nicht passt, dann ist aber was los. Aber ich greife vor, bleiben wir noch kurz bei den Bahai.

Ich kann mich jetzt nicht hinsetzen und das ausrecherchieren, aber mir scheint, dass diese Religion ihre Gläubigen relativ wenig einschränkt; sie sieht Gott als den übergreifenden Gott aller Weltreligionen. Ähm, ja, hier würde es wirklich zu kompliziert. Meine Einschätzung: Schöne Idee, aber das klappt nicht.

Religion generell ist etwas, was ich allen Menschen, die glauben können, von Herzen gönne. Glaube gibt, wenn richtig praktiziert, Hoffnung und er erdet auch. Religion dagegen ist der äußere Rahmen, der sich tatsächlich als haltgebend erweisen kann, aber eben auch als eine Art Gefängnis. So bin ich regelmäßig wirklich enttäuscht von der Übergriffigkeit und der Engstirnigkeit der Religionen. Statt Liebe als solche zu sehen und anzuerkennen, werden Homosexuelle bestraft – bestenfalls mit Ave Maria und Vaterunser, schlimmstenfalls mit dem Tod. Je nach Religion und radikaler Ausübung durch den jeweiligen Klerus. Wie soll ich solche Leute ehren?

Gerade im Christentum tropft die Moralinsäure nur so von den Kanzeln – ich rede nicht vorwiegend von Deutschland, aber sicherlich auch. Da wird Sex als etwas ungebührliches, unerwünschtes, ja ein simples Mittel zum Zweck angesehen. Das darf bloß keinen Spaß machen, um Himmels willen. Der einzige Grund für Sex ist das Zeugen von Kindern. Wehe dem, der da versucht, eine Schwangerschaft zu verhüten! Wenn Sex, dann ohne Netz und doppelten Boden, Kinder sollt ihr zeugen, egal, ob ihr sie ernähren könnt oder nicht. Der Herr wird sich schon kümmern.

Und wenn gesichert ist, dass ein Kind die Geburt nicht überlebt? Kommt drauf an. In Polen hat 2020 das Verfassungsgericht entscheiden, dass auch diese Kinder ausgetragen werden müssen. Der Präsident erklärt, warum: Damit diese Kinder wenigstens im katholischen Sinne getauft und beerdigt werden und einen Namen bekommen können. Dafür müssen sich also Mütter durch eine Schwangerschaft quälen, die sicher mit dem Tod des Kindes endet. Dafür müssen dann auch die Kinder leiden und sterben. Ja, sehr christlich.

Ich äußere mich jetzt nicht über andere Religionen, obwohl ich das könnte. Nur so viel: Es ist mit Sicherheit nicht Gott, der will, dass Neugeborene, Kleinkinder oder Kinder in der Vorpubertät chirurgischen Eingriffen ausgesetzt werden, die übelste gesundheitliche Auswirkungen haben können oder sogar zum Tod führen. Es ist unter Garantie nicht Gott, der Paare (ob verheiratet oder nicht) gängelt und ihnen vorschreibt, wie sie ihre Sexualität zu leben haben. Es ist bestimmt nicht Gott, der will, dass Frauen für jeden Schritt, den sie tun, ihren Mann um Erlaubnis bitten müssen und es ist nicht Gott, der Kindern, speziell Mädchen, Bildung verweigert. Nein, das sind Menschen, und zwar solche, für die es praktisch ist, andere Menschen mit diesen Moral“gesetzen“ im Griff zu halten.

Wenn wir Kinder Gottes sind, dann können wir uns in Zuneigung umeinander kümmern, ohne körperliche und soziale Einschränkungen hinzunehmen. Und wir wachsen vermutlich wesentlich liebevoller und unbeschwerter als Gesellschaft zusammen.

In diesem Sinne: Liebe Religiöse, lebt gerne euere Religion; aber zerreißt dieses Netz aus Vorschriften, Vorurteilen, Verboten und Geboten. Vielen Dank.

Eindrücke vom Abzug aus Afghanistan

Ich bin außenpolitisch überwiegend mit Ahnungslosigkeit geschlagen, das vorweg. Jetzt schreibe ich trotzdem auf, was meine Eindrücke von den Ereignissen in Afghanistan sind. Das tue ich aus zwei Gründen: Das Internet ist voll von Leuten, die mir helfen können, meine Sichtweise zu korrigieren, falls das nötig ist und ich fürchte, dass ich mit dem, was ich sehe, nicht allein bin. Es wäre auch zuviel verlangt vom „Durchschnittsmenschen“, über derart komplexe außenpolitische Vorgänge vollumfänglich Bescheid zu wissen. Also los, fangen wir mit der ersten Erinnerung an, die ich an die Berichterstattung von diesem Kriegsgeschehen habe:

Horst Köhler, damals Bundespräsident, sagte am Rande eines Truppenbesuchs folgende, sehr wahre Worte:

„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“

Das war der kommunikative Supergau, den ein Bundespräsident sich wirklich nicht leisten durfte und es hat Horst Köhler ja dann auch prompt den Job gekostet. Nichtsdestoweniger war die Einschätzung vollkommen korrekt. Keine Regierung dieser Welt wird sich an einem Krieg beteiligen, wenn es nicht um eigene Interessen geht. Das ist so, das war so – und das wird immer so sein. Hätten wir und unsere Aliierten für unseren Außenhandel und sonstigen Interessen freie Bahn gehabt, wäre die Herrschaft der Taliban nie in Gefahr gewesen. Jedenfalls nicht durch den Westen; der Konflikt hätte sich dort unter den Bürgerkriegsparteien abgespielt und wir hätten höchstens humanitäre Hilfe geschickt, niemals aber Militär, niemals Ausbilder.

So, das heißt für mich, dass dieser Einsatz folgende Ziele verfolgt haben muss:

  • Sicherstellung unserer wirtschaftlichen Präsenz in der Region
  • Sicherung von eventuell vorhandenen Rohstoffen in der Region
  • Ausbildung von Polizei und Armee zum Schutz unserer Interessen (Industrieanlagen, Lager, dgl.) in der Region

Dass man nebenher das Feigenblatt des humanitären Einsatzes noch vor die empfindlichen Stellen des Regierungskörpers halten konnte, war sehr praktisch. Dumm, dass dieser Elefant im Porzellanladen von einem Bundespräsidenten damals so dämlich war, tatsächlich zu sagen, was Fakt war, und das auch noch zitierfähig. So etwas tut man nicht!

Wie humanitär unser Interesse an Afghanistan tatsächlich ist, sieht man an dem Truppenabzug. Der US-amerikanische Präsident zieht die Truppen entgegen aller Warnungen im Rekordtempo ab und innerhalb kürzester Zeit kommen die Taliban zurück nach Afghanistan. Das bedeutet eine lebensbedrohliche Katastrophe für

  • alle Mitarbeiter, die mit uns zusammengearbeitet haben (Ortskräfte)
  • Frauen und Mädchen
  • alle, die der radikalen Koranauslegung der Taliban nicht folgen
  • alle, die in das orthodoxe Raster der Taliban nicht passen

.

Wir haben, das haben inzwischen sogar einige unserer Politiker laut gesagt, eine Verpflichtung gegenüber den Menschen in Afghanistan, vor allen Dingen gegenüber den sogenannten Ortskräften. Sie haben uns in unserem Tun und für das Erreichen unserer Ziele unterstützt, das macht sie zu Verrätern in den Augen der Taliban und auf Verrat steht der Tod. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin der Botschaft, des Konsulats, Übersetzer für die Soldaten der Bundeswehr, alle, die handwerkliche Arbeit geleistet haben, sind genau dieser Gefahr ausgesetzt und sollten sie hingerichtet werden, so klebt ihr Blut an unseren Händen. Und nein, ich sage bewußt nicht „an den Händen unserer Regierung“. Eine Mehrheit von uns hat diese Leute gewählt, wir sind hier in einer Demokratie, also sind wir alle mitverantwortlich. Man kann sich nicht aussuchen, wann „wir“ die Guten, die Medaillengewinner, die Weltmeister, die helfenden Hände, die freundlichen EU-Nachbarn, sind und wann „die“ (Regierung, nämlich) die üblen Spießgesellen sind, die unsere Soldaten in den Krieg schicken, die Letzter werden oder vierter, die die einen Hilfsbedürftigen den anderen Hilfsbedürftigen vorziehen. Ganz oder gar nicht, das ist auch Teil der Demokratie, auch wenn viele Menschen das nicht begreifen wollen.

Die Taliban erklären jetzt, sie wären ja ganz andere Taliban als die, die vor 20 Jahren regelmäßig in Rachsucht und Gewalttätigkeit über die Menschen in Afghanistan hergefallen sind. Sie sagen, sie würden alles vergessen und verzeihen. In Kabul ist es momentan auch wohl erstaunlich ruhig. Das, was im Inland los ist, bekommen wir nicht mit. Trotzdem scheinen die Menschen sich zu fürchten. Clarissa Ward, die momentan für CNN vor Ort in Kabul ist, hat Stephen Colbert ein sehr interessantes Interview gegeben. Sie sagt:

So viele Menschen fühlen sich zurückgelassen, sie haben das Gefühl, links liegengelassen zu werden und sie sind zutiefst verängstigt und voller Bitterkeit.

Auf die Frage, ob das Gefühl bestünde, dass die Taliban niemanden von diesen Leuten [die die USA-Truppen unterstützt haben] außer Landes lassen würden, also grundsätzlich alle einsperren würden, sagt sie:

Ich denke nicht, dass dieses Gefühl jetzt schon besteht. Ich meine, die Taliban haben definitiv gesagt, bitte geht nicht, denn sie wissen, dass aus der PR-Perspektive heraus diese Bilder von diesen Menschenmassen, die sich verzweifelt an die Flugzeuge der US-amerikanischen Luftwaffe klammern, um außer Landes zu kommen, sie nehmen wahr, dass das wirklich schlecht für sie aussieht und sie versuchen in diesem Mement zu signalisieren, dass sie eine andere Art von Taliban sind, dass sie regieren können, dass sie diplomatischer sind und deshalb wollen sie offensichtlich keine Szenen auf dem Boden, die diesem Narrativ direkt entgegenstehen. Ich habe noch nicht das Gefühl, dass sie Menschen direkt am verlassen des Landes hindern wollen, aber das ist offensichtlich die große Angst.

Die andere große Angst ist, dass sobald die Amerikaner zusammengepackt und die Zugbrücke hochgezogen haben, wie werden die Afghanen, die mit den Vereinigten Staaten zusammengearbeitet haben, wie wickeln sie den Papierkram ab, reichen dieses Dokument ein, mit wem können sie sprechen? Diese Leute dachten, sie hätten mehr Zeit, um sich auf diesen Moment vorzubereiten, vielleicht Monate. Es waren Stunden.

Die Antwort auf die nächste Frage ist das, was mich auch bewegt. Stephen Colbert fragte, was die Menschen in Afghanistan, die mit den Amerikanern und der amerikanischen Präsenz gelebt haben, über den amerikanischen Rückzug und die Amerikaner jetzt denken. Clarissa Ward sagte dazu:

Wissen Sie, ich denke das ist ein wirklich wichtiger Punkt für die Afghanen, mit denen ich gesprochen habe; sie werfen Amerika nicht vor, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Sie haben von Amerika nicht erwartet, weiter jahrzehntelang den Krieg eines anderen Landes zu führen und sie verstehen vollkommen, dass das afghanische Volk die Verantwortung für sein eigenes Land übernehmen muss. Aber wo die Bitterkeit, die Traurigkeit, wo die Angst herkommt, ist die Art, in der dieser Rückzug ausgeführt wurde, das Chaos darin, die Eile, die Tatsache, dass den Taliban während dieser Verhandlungen nicht mehr Zugeständnisse abgerungen wurden, daher kommt der Kummer, daher kommt die Bitterkeit und daher kommt die Wut.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gefühle gegenüber den Deutschen wesentlich anders sind. Und ich kann das gut verstehen. Was das für die Zukunft der Region heißen mag, für die weltweite Sicherheitsstruktur, ist wohl wirklich kaum absehbar. Wie viele Afghanen werden sich wohl schon aus Enttäuschung und Wut gegen den Westen, gegen die NATO wenden?

Ein Thema, das mich besonders besorgt, ist die Frage, was wohl aus den Frauen und Mädchen wird. Die Taliban sind Muslime, ja. Da gibt es, ebenso wie bei den Christen, Abstufungen, Schattierungen. Die Taliban gehören wohl zu den konservativsten, othodoxesten Muslimen überhaupt. Frauen haben es da schwer, wenn sie sich nicht damit abfinden möchten, wie Dinge behandelt zu werden. Schon jetzt kursieren Bilder von Taliban, die sich unter den Mädchen, die sie vorfinden, eine Frau aussuchen und einfach mitnehmen. Ehefrauen sind in diesem Zusammenhang eher so etwas wie Sklavinnen, die für die Zufriedenheit des Mannes zuständig sind. Mädchen zur Schule zu schicken gilt als sündhaft. Clarissa Ward erwähnte, dass man auf den Straßen praktisch keine Frauen mehr sieht, dass sie aus Angst vor Repressalien zuhause bleiben. Nach 20 Jahren, in denen ja auch Kinder geboren wurden und in einem gänzlich anderen Klima heranwuchsen, scheint das erstaunlich. Den Taliban scheint dort also ein Ruf vorauszueilen, der Angst und Schrecken verbreitet, auch wenn sie jetzt sagen, sie wären anders. Moderner? Besser? Sie werden das beweisen müssen.

Der US-amerikanische Präsident Biden sagte, die Truppen seien nach Afghanistan geschickt worden, um weitere Anschläge wie den vom 11. September 2001 zu verhindern und dieses Ziel sei nun erreicht. Wie weit ist dieses Ziel erreicht, wenn genau die Menschen, die für diesen und viele weitere Anschläge verantwortlich gemacht wurden, jetzt wieder das Land beherrschen? Können wir sicher sein, dass wir keine Renaissance des radikalen Islamismus erleben? Ich denke, dass wir das nicht sein können, vor allem, wenn man bedenkt, wie rasend schnell die Taliban nach dem Truppenabzug das Land wieder in Besitz genommen haben.

Bei ihrem Vormarsch haben die Taliban auch Biometrie-Geräte und -Datenbanken erbeutet, die durchaus auch darauf abgespeicherte Daten enthalten. Wir dürfen uns nicht der Vorstellung hingeben, dass diese Menschen, nur, weil sie sich fransige Bärte wachsen lassen und Kleidung tragen, die wir in längst vergangenen Zeiten verorten, nicht mit moderner Technik umgehen können. Sie haben militärisches Gerät, das das afghanische Militär von den USA bekommen hat, sie haben Piloten, sie haben nicht nur die Technik, sie haben die Bildung, um mit der Technik umzugehen.

Nein, ich denke nicht, dass dass das afghanische Militär nicht mit entsprechenden Geräten hätte ausgerüstet werden dürfen und ich denke auch, dass die Soldaten mit dem Gerät umgehen können. Aber um es dann auch einzusetzen, brauchen Soldaten nicht nur Wissen und Können, sondern auch den entsprechenden Kampfgeist. Ich fürchte, den haben wir ihnen durch diesen völlig überstürzten Abzug genommen.

Ich hoffe sehr, dass uns das nicht auf die Füße fällt. Und noch mehr hoffe ich, dass das den Afghanen und den Menschen in ihrer Region nicht auf lange Sicht schlimmen Schaden zufügt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Unsichere Zukunft

Plötzlich und unerwartet steht unser Leben auf dem Kopf. Ein Virus, viel zu winzig, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen, bringt unseren Alltag zum Erliegen. Menschen bleiben zuhause. Wohl dem, der Familie hat, da ist wenigstens noch Ansprache möglich, solange es ausreichend Rückzugsorte gibt. Singles wie ich sitzen allein zuhause und telefonieren oder sehen fern. Nie habe ich Netflix so sehr zu schätzen gewußt wie derzeit.

Wenn aber zwischendurch einmal Pause ist, wenn ich innehalte, nicht mehr versuche, mich in eine andere Welt zu begeben, dann überfällt mich ein ungutes Gefühl. Das liegt daran, dass ich mich informiere. Sicherlich sind Hauptquellen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die Onlineausgaben von Tageszeitungen (gelobt sei an dieser Stelle Twitter, die alte Linkschleuder, die mir viel Recherchearbeit abnimmt). Dazu kommen Dinge, die einfach nicht ausbleiben können: Die Kommentare meiner Familie auf WhatsApp, zum Beispiel, wo die Linkschleuder eben nicht meine wohlgepflegte, handverlesene Twitter-Timeline ist, sondern oft genug die obskureren Ecken in Facebook. Die „Diskussion“ der Auswirkungen des Virus und der Maßnahmen, die getroffen werden müssen, wird auch dadurch nicht leichter, dass Ärzte und Wissenschaftler (richtig, da gibt es einen Unterschied) teils ebenfalls sehr unterschiedliche Ansichten haben.

So sitzen wir allein (oder zu zweit, dritt, viert…) in unseren Wohnungen, wo wir zu viel Zeit zum Denken haben und zu viel Zeit zum Angst haben.  Das Virus hat uns fest im Griff, obwohl die meisten von uns gar nicht krank sind. Aber das ist eben das Tückische: Niemand kann genau sagen, wen es erwischen wird. Sicher sind Menschen mit einem von Diabetes oder Immunsuppressiva* geschwächten Immunsystem eher bedroht. Sicher sterben auch viele alte Patienten, deren Immunsystem sowieso nicht mehr sehr gut ist, teils mit, teils an Covid-19. Sicher kann man davon ausgehen, dass das Virus relativ jungen Menschen, die gesund sind, nicht viel anhaben kann – meistens. Menschen, die da Ausnahmefälle sind, ohne es zu wissen, hilft das wenig.

Damit sind wir so ungefähr bei der Quintessenz dessen was wir wissen: Das Virus kann gefährlich sein, die Erkrankung kann tödlich enden, es kann grundsätzlich jeden erwischen, auch wenn alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen gefährdeter sind, ein Mundschutz kann von Nutzen sein, die Maßnahmen, die unsere Politiker beschlossen haben, können dazu beitragen, dass wir unser Gesundheitsystem nicht überlasten und damit vermeiden, mehr Menschen zu gefährden als nötig. Kann. Muss aber nicht.

Es ist sehr viel Möglichkeit in den Informationen, die wir bekommen und sehr wenig Gewissheit. Jetzt, wo die Zahlen so schüchtern und vorsichtig besser werden wie die Blattknospen an den Bäumen erscheinen und größer werden, kommen die ersten Rufe nach Lockerung der Maßnahmen. Mehr Geschäfte sollen öffnen dürfen, vor allen Dingen. Mehr geöffnete Geschäfte bedeutet mehr Stadtbummler und das bedeutet, dass Abstände nicht mehr eingehalten werden könnten. So gerne ich mir vielleicht eine neue Jeans kaufen möchte – noch ist mir das Risiko zu hoch.

Durch die Maßnahmen ist auch die Versammlungsfreiheit gefährdet. In meiner wohlsortierten Twitter-Timeline sind die Menschen deswegen grundsätzlich unerfreut, denn sie würden gern demonstrieren, um ihre Freiheit zu schützen, denn die Maßnahmen, um Daten zu erheben, damit man das Virus vorhersagbarer machen können, sind vielerorts in gar keiner Weise mit geltenden Datenschutzbestimmungen zu vereinbaren. Die Befürchtung ist, dass hier Überwachungsmechanismen eingeführt werden, die später kaum noch oder gar nicht zurückgenommen werden können. Diese Befürchtung teile nicht nur ich, sondern auch meine Geschwister, die deutlich konservativer eingestellt sind als ich. Die Frage im Hinterkopf vieler Menschen hierzulande lautet:

Bekommen wir einen Überwachungsstaat durch die virale Hintertür?

Ich kann das nicht beantworten – vermutlich kann das niemand. Unseren derzeit mit den entsprechenden Maßnahmen befassten Politikern traue ich nicht zu, diese Situation, die die Gesellschaft sehr verwundbar macht, für diese Zwecke auszunutzen. Das Problem ist, dass die meisten Beschlüsse sehr schnell gefasst worden sind und die dazugehörigen (rechtlich bindenden) Texte entsprechend mit einer sehr heißen Nadel gestrickt wurden. Was, wenn so Löcher ins Werk gebrannt werden, die für nachfolgende „Politiker“ ein willkommener Türöffner sind? So unwahrscheinlich wie noch vor zehn Jahren ist das heute nicht mehr – und schon damals haben Menschen, die die Informationstechnologie gut kennen, vor den Gefahren des Datenmissbrauchs gewarnt. Heute ist diese Gefahr deutlich größer.

Was soll man jetzt also von alledem halten? Ist dieses Virus gefährlich für uns alle oder nur einige wenige? Ist das Virus selbst tödlich oder muss eine weitere Erkrankung hinzukommen? Sind die Maßnahmen, die ergriffen wurden, ausreichend, nicht ausreichend, übertrieben? Sind „Corona-App“ und ihre Geschwister zu datenhungrig? Entsteht aus der Furcht vor dem Virus endgültig der gläserne Bürger?

Ich weiß es nicht und vermutlich wissen das noch nicht einmal die Fachleute und Experten. Im Moment können wir nur hoffen, dass das alles gut geht. Ich halte uns die Daumen.

*Medikamente zur Unterdrückung des Immundsystems, die beispielsweise nach einer Organtransplantation genommen werden müssen, um Abstoßungsreaktionen zu vermeiden

AIDS war ja so schön…

Es gibt ja nun nicht mehr so viele Leute, die sich daran erinnern, wie es damals war, als die Angst vor AIDS ihren Anfang nahm. Ich muss so um die 10 Jahre alt gewesen sein, als das Thema in mein Bewußtsein drang. An die Schlagzeilen kann ich mich noch gut erinnern. In der Luft lag die Angst vor dem jüngsten Gericht, Hilflosigkeit, Wut und so viele Nuancen dazwischen. AIDS hatte für die Menschen damals den Vorteil, dass es Schuldige gab, die auch rasend schnell ausgemacht waren. Ich brauche nicht darauf einzugehen wer, das wissen wir, glaube ich, alle. Die Erkenntnis, dass es dann doch nicht ganz so einfach ist, hat einen langen, beschwerlichen und sehr, sehr schmerzvollen Lernprozess gebraucht, der bis heute noch nicht wirklich abgeschlossen ist.

Jetzt, nach AIDS, BSE, Vogelgrippe, Schweinepest und was weiß ich noch alles, jetzt ist er da, der Erreger, der uns alle angreift. Es gibt keine Ausnahmen mehr. Sicher, es gibt Risikogruppen, die gefährdeter sind als das Gros der Bevölkerung: Alte Menschen, Diabetiker, Lungenkranke, Menschen mit einem geschwächten Immunsystem… Die sind als erste dran. Aber erwischen kann es diesmal wirklich jeden, keine Ausnahmen mehr.

Das ist schwer zu greifen, denn selbst 100.000 Menschen von 80 Millionen fallen uns nicht wirklich auf, solange wir selbst gesund und munter sind und nicht ins Krankenhaus müssen. Solange niemand ernstlich erkrankt – Corona oder nicht. Wenn die Intensivstationen voller Infizierter sind, wird es auch für die Herzinfarktpatienten eng, es wird für Menschen mit anderen Infektionen extrem schwer. Es wird das Personal in den OPs fehlen, es werden Krankenschwestern und -pfleger fehlen, es werden Menschen sterben, weil nicht genug Leute da sind, die sich um ihre Genesung kümmern. Das ist alles bekannt, seit Wochen, ich erzähle nichts Neues. Und trotzdem gibt es immer wieder Menschen, die nicht einsehen, dass sie auf ihre Bewegungsfreiheit, auf Veranstaltungen, auf den Abend in der Kneipe verzichten sollen.

Schüler sehen die Schließung der Schulen als „Corona-Ferien“ an, auch hier bei mir in der Nachbarschaft war Party. Nein, natürlich nicht alle Schüler – aber genügend, als dass es gefährlich werden kann. Von Massenhysterie ist die Rede, von Panikmache. Gut, ich bin sicher keine Virologin. Ich habe aber lange genug Umgang mit den Menschen in diesem Gesundheitssystem gehabt, um eines wirklich zu wissen:

Es gibt kein Heilmittel gegen Viren!

Deswegen bitten uns Menschen, von denen wir es nicht erwartet hätten, schon fast auf Knien rutschend um Vernunft. Darum, zuhause zu bleiben. Darum, auf Partys zu verzichten. Darum, Menschenansammlungen zu meiden.

Einen Virusinfekt, egal wie leicht oder schwer, muss man durchstehen. In meiner Kindheit hieß es „drei Tag‘ kommt er, drei Tag‘ steht er, drei Tag‘ geht er“. Gemeint war der Schnupfen. Es gibt Medikamente, die eventuell die Symptome lindern, die Erkrankung selbst muss der Körper bekämpfen.Und das kann bei schweren Infekten eben auch mal nicht gelingen und dann tödlich enden.

Deswegen werden jetzt unsere elementarsten Rechte eingeschränkt. Ob da mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird, kann niemand wissen. Die Prognosen der Virologen sind düster, aber eines ist sicher: Wenn mich niemand anhustet, kann ich mich auch nicht anstrecken und ich kann den Infekt nicht weitertragen. Ob die Maßnahmen, die unsere Politiker jetzt ergreifen, überzogen sind, mag ich nicht fragen. Wonach ich frage, das ist die Intention. Und da bin ich sehr überzeugt, dass in diesem besonderen Fall mal tatsächlich keine Ruchlosigkeit dahintersteckt.

Ich halte es in diesem speziellen Fall für sinnvoll, den Menschen vorzuschreiben, dass sie zuhause bleiben sollen. Ich halte das Aussetzen des Versammlungsrechts für gerechtfertigt, weil es für alle gilt. Das Einsperren nur von Risikogruppen würde ich heute genauso ablehnen wie ich es zu Zeiten von AIDS abgelehnt habe.

Wichtig ist jetzt, dass wir jetzt dem gemeinsamen Feind möglichst keine Angriffsfläche bieten. Und dieser Feind ist nicht „die Politik“, nicht „die Wirtschaft“ auch nicht der Nachbar, der hustet und die Frau im Bus, die niesen muss. Der Feind ist das Virus. Und den bekämpfen wir am Besten, wenn wir zuhause bleiben. Wenn zu viele Menschen das nicht einsehen, dann eben gezwungenermaßen.

Das Beitragsbild entstammt meiner Lieblingsquelle, Pixabay. Der Fotograf ist Gert Altmann.

Neues Jahr, neue Wege

Politik ist und bleibt ein anstrengendes Geschäft. Die meisten Leute können sich nicht vorstellen, dass Politik tatsächlich in der Hauptsache aus Reden, Zuhören, Konsens finden, wieder Reden, wieder Zuhören, Anträge formulieren, Anträge lesen, Anträge diskutieren, Anträge abstimmen besteht. Oft nehmen Menschen an, dass Veränderungen schnell gehen könnten (und müssten). Politik ist aber kein kleines, wendiges Dinghi, sondern eher ein sehr großes, sehr schwerfälliges Containerschiff. Die Anstrengung, so ein Schiff zu navigieren, ist groß und zehrt an den Kräften aller Beteiligten.

Deswegen haben wir uns hier auf das System der repräsentativen Demokratie geeinigt. Das Volk ist der Souverän, jeder einzelne von uns (solange wir über 18 Jahre alt sind und im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte). Wir haben Parteien, in denen das, was von den dort mitarbeitenden Menschen als wichtige Ziele wahrgenommen wird, in Anträge gegossen wird, dann abgestimmt und dann für die Wähler als Programm präsentiert. Die Wähler könnten also tatsächlich informiert in Wahlen gehen und ihre Aufgabe als Souverän wahrnehmen. In der Praxis tun sie das nicht.

Jede Partei verteilt im Wahlkampf kleine Zettelchen (sogenannte Flyer), auf denen das Wichtigste aus dem jeweiligen Programm zu lesen ist. Meistens wandern diese Flyer ungelesen in Mülleimer oder bleiben irgendwo auf der Straße liegen. Die Entscheidung, wer gewählt wird, hängt überwiegend von Sympathie ab und davon, wofür eine Partei steht. Die SPD stand lange Zeit für Soziales, CDU und CSU für konservative Politik (vorsichtige Veränderungen, wenn überhaupt), die Grünen für Umweltpolitik, die FDP für freiheitliche Werte; etwas später kam dann die Linke hinzu, die als Nachfolger der SED-Diktatur wahrgenommen wurde (und teilweise noch wird). Was in den Programmen steht, interessiert die meisten Wähler  nicht, sie haben anderes zu tun.

Das verleitet die verantwortlichen Menschen innerhalb der Parteien oft dazu, anzunehmen, dass die Wähler mit dem, was in den Programmen steht, einverstanden wären. Insofern stößt Unmut, der in der Bevölkerung gegenüber der Politik entsteht, bei Politikern ganz oft auf vollständiges Unverständnis. Die Wähler fühlen sich hintergangen und machtlos, die Politiker fühlen sich im Recht, sie wurden schließlich gewählt. Es ist eine höchst unbefriedigende Situation.

Ich habe mich etwas mehr als zehn Jahre lang in diesem Geflecht aus Diskussion, Anträgen, Konferenzen, Parteitagen und Abstimmungen bewegt als Mitglied der Piratenpartei. Nachdem ich gleich zu Anfang, im März 2010, in ein Vorstandsamt gestolpert war, habe ich mich hauptsächlich organisatorisch betätigt – in der Piratenpartei hat ein Vorstand sich mit seiner Meinung zurückzuhalten. Bis 2018 hatte ich durchgehend Vorstandsämter inne, im Kreisverband, im Landesverband und auch im Bundesverband. Meine Aufgabe habe ich immer darin gesehen, den Mitgliedern der Parteibasis die Strukturen zu schaffen, innerhalb derer sie ihre Diskussionen ungestört führen, ihre Anträge formulieren und die notwendigen Informationen einholen können. Das ist mal mehr, mal weniger gelungen – vollumfänglich wird man das wahrscheinlich nie schaffen. Das wäre auch schlecht, denn unveränderliche Strukturen führen unweigerlich in die Versteinerung, insofern ist das ausgesprochen gut so.

Es waren sehr anstrengende Jahre und ich habe sehr viel Freude an der Parteiarbeit gehabt. In anderen Parteien, das weiss ich, sind die Strukturen deutlich starrer, von der Organisation der Arbeitsgruppen bis hin zu den Redelisten auf Parteitagen. Insofern bin ich dankbar, in so einem flexiblen Konstrukt gearbeitet zu haben. Von außen mag das chaotisch wirken, ich bin der Ansicht, dass das die einzige Möglichkeit ist, gesellschaftliche Veränderungen wahrzunehmen und mitzugehen. Meine Begeisterung für die Piratenpartei, so sehr ich manchmal auch schimpfe, hat also nicht nachgelassen.

Trotzdem ist der parteipolitische Weg nicht mehr meiner. Ich habe zu viel mit mir selbst zu tun, mit meinem Leben, damit, wieder einmal Steine abzuklopfen und neu aufeinander zu legen, mir ein neues Haus für mein Leben zu bauen. Das kommt vor, wenn man, wie es bei mir der Fall ist, häufig mit Veränderungen konfrontiert wird, familiäre Verpflichtungen einhalten will und selbst immer wieder andere, neue Wege durchs Leben finden muss. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mit den relativ losen Strukturen in der Piratenpartei gut  zurechtgekommen bin.

Ich bin zum 31.12.2019 ausgetreten, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Wäre ich geblieben, ich wäre über kurz oder lang doch wieder in organisatorische Verantwortung gegangen, allein weil es mir Freude macht und es doch so einige Menschen in der Partei gibt, mit denen ich sehr gut und sehr gern zusammen arbeite. Mein politischer Einfluß auf die Partei war noch nicht einmal marginal – das war auch nie mein Anspruch. Mir war gute Zusammenarbeit über Flügel und Unterschiede hinweg wichtig. Ich bin froh, dass ich diese gut zehn Jahre in der Piratenpartei hatte. Ich habe ungeheuer viel gelernt, tatsächlich Freunde gefunden und auch dann Freude an der Mitarbeit gehabt, wenn ich das Gefühl hatte, mir würden mehr Steine in den Weg gelegt als notwendig.

Es ist Zeit, neue Wege zu gehen. Vielleicht engagiere ich mich irgendwann wieder politisch, eventuell in einer NGO – oder auch in einer Partei. Vielleicht gehe ich zu den Piraten zurück, wer weiß. Jetzt ist nicht die Zeit dafür. Ich wünsche den Piraten, vor allen Dingen unserem Europaabgeordneten Patrick Breyer, gutes Gelingen. Und: Ich bin nicht aus der Welt, Leute. Nur, weil ich den Verantwortungsklotz der Mitgliedschaft abgeworfen habe, heißt das nicht, dass ich ich nichts mehr mit den Piraten zu tun haben möchte.

Unter der Gürtellinie…

Bodo Ramelow, der Ministerpräsident Thüringens, ist mir eigentlich sehr sympathisch. Deswegen nehme ich mir heute mal die Zeit für einen etwas längeren Widerspruch auf einen Tweet, der mich neulich doch ein wenig geärgert hat:

Der Vergleich mit der AfD ist dann doch arg weit unter der Gürtellinie, lieber Herr Ramelow. Sicher, wir werden immer wieder mal bezichtigt, auf Frauen nicht genügend Rücksicht zu nehmen, nicht attraktiv genug für Frauen zu sein, eine reine Männerpartei zu sein. Nachdem wir in unserer Mitgliederdatenbank das Geschlecht der Mitglieder nicht erfassen (was geht das die Mitgliederverwaltung auch an?), kann ich Ihnen noch nicht einmal sagen, ob wir tatsächlich weniger Frauen unter unseren Mitgliedern haben als andere Parteien. Was ich weiß: Die Frauen in der Piratenpartei wissen, was sie wollen. Sie überlegen sich, ob sie einen Posten übernehmen oder für ein Mandat kandidieren möchten. Sie denken darüber nach, ob sie die Zeit und die Nerven haben, sich das anzutun. Und sie sagen auch sehr deutlich, innerhalb welchen Rahmens sie für die Partei tätig werden können.

Vielleicht liegt das daran, dass die Piraten es sich einfach nicht leisten können, für den Lebensunterhalt ihrer Vorstandsmitglieder oder Mandatsbewerber aufzukommen. Wir haben ein paar Angestellte, ja. Buchhaltung, IT und Geschäftsstelle wären ohne sie nicht zu bewältigen. Im Gegensatz zu den sogenannten „Volksparteien“ sind unsere Vorstände bis hoch zum Bundesvorstand aber ehrenamtlich tätig und bekommen nur ihre Reisekosten ersetzt.

Unter diesen Bedingungen kann einen so ein Parteijob – vor allem, wenn es darum geht, sich um ein Mandat zu bewerben – an den Rand der körperlichen, nervlichen und auch finanziellen Belastbarkeit bringen. Sicher, so ein Mandatsbewerber hat Anspruch auf unbezahlten Urlaub, um seinen Wahlkampf in Ruhe führen zu können. Das Problem ist das mit dem „unbezahlt“. Die Rechnungen flattern ja weiter ins Haus, die Ernährungslage muss weiterhin gesichert bleiben und wenn man unterwegs ist, reichen 24 Euro am Tag für Frühstück, Mittag- und Abendessen nur sehr knapp aus. Die erste Hürde, die zu nehmen ist, ist also eine finanzielle Hürde. Ich versichere Ihnen, lieber Herr Ramelow: Die Frauen in der Piratenpartei können rechnen. Und wenn sich eine entschließt, trotzdem zu kandidieren, dann tut sie das im Wissen darum, dass sie in diese Partei investiert ohne eine große Chance auf Erfolg und damit Kompensation. Das muss man leisten können. Unsere einzige weibliche Kandidatin für den Europawahlkampf, Sabine Martiny, hat sowohl zeitlich als auch finanziell den Rücken frei genug, um sich auf dieses Abenteuer einzulassen – und hat es genau deswegen auch getan.

Ich selbst wurde durchaus auch gefragt und habe abgelehnt. Die Gründe sind recht einfach: Ich habe von 2010 bis 2018 Vorstandsämter auf Kreis-, Landes- und Bundesebene innegehabt und diese Ämter so gut ausgefüllt wie ich irgend konnte. Ich habe 2013 für den Landtag in Bayern kandidiert (auf Listenplatz 4) und 2018 für den Bezirkstag Mittelfranken. Das alles habe ich sehr gern für meine Partei getan (und auch ein wenig für mich). Ich habe Infostände betreut, mir den Mund in Fetzen geredet, diskutiert und durchaus auch Menschen von unseren Inhalten überzeugt. Insofern habe ich mir nichts vorzuwerfen und finde, ich habe eine Pause verdient. Es gibt einige Parteikolleginnen, denen es genauso geht.

Es geht mir auch ziemlich auf die Nerven, dass regelmäßig ignoriert wird, dass wir durchaus sehr viel weibliches Führungspersonal aufzuweisen hatten und auch heute noch haben. Ich denke, Sie sollten dann schon mal wissen, wovon wir reden, wenn wir sagen, dass wir wirklich keine Quoten brauchen, herzlichen Dank. Der ganz überwiegenden Mehrheit meiner Parteikolleginnen ist es deutlich lieber, wegen ihrer Kompetenz gewählt zu werden als ihres Geschlechts wegen. So viel zum Thema „Frauen in der Piratenpartei“.

Nun noch allgemein zum Paritätsgesetz, das zwei wirklich schwere Fehler hat: Erstens werden innerhalb von Parteien voraussichtlich Frauen gedrängt, zu kandidieren – von Männern, die gerne einen Listenplatz haben wollen. Zweitens zementiert es eine sehr binäre Sichtweise. Wenn wir schon über Geschlechter reden, sollten wir uns vor Augen halten, dass es eben doch mehr als zwei Geschlechter gibt.

Aber ich denke, wir sollten über Menschen reden. Denn in unseren Parlamenten, möchte ich von Menschen vertreten werden, die eben auch kompetent sind in dem, was sie tun. Menschen, die nicht für 150 Millionen Euro im Jahr Berater brauchen und dann doch nichts richtig machen können. Menschen, die wissen, dass wir uns mitten in einem Umbruch befinden, der Arbeit vollkommen neu definieren wird. Menschen, die wissen, dass das brandgefährlich ist, dass das bittere Armut nach sich ziehen kann. Menschen, die wissen, was Meinungsfreiheit wert ist und nicht Schwächere für ihre unlauteren Zwecke missbrauchen. Menschen, die wissen, dass es die totale Sicherheit nicht gibt. Menschen, die wissen, dass Freiheit das höchste Gut ist, das wir überhaupt haben. Die sich kundig machen, technisch wie gesellschaftlich. Und diese Menschen dürfen dann auch sehr gern Piraten sein – wie Ute Elisabeth Gabelmann, ihres Zeichens Stadträtin der Piraten in Leipzig, die ich hier zitiere, weil sie genau das ausdrückt, was ich meine:

So, Herr Ramelow. Und jetzt wäre ich sehr dankbar, wenn Sie zukünftig von Totschlagvergleichen wie dem oben angeführten absehen könnten und zukünftig auch mal denen zuhörten, die Sie nicht vertreten können – aus Mangel an Geschlechtsorganen – anstatt nur auf eine kleine Teilmenge zu hören. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, denn vieles, was Sie sagen und tun, finde ich durchaus lobens- und bedenkenswert.

Linksteuer und Uploadfilter können nicht funktionieren

Ich habe langsam den Eindruck, dass nicht mehr wirklich viele Menschen wissen, dass das Internet auf den Prinzipien der Offenheit, der Durchschaubarkeit und der Zugänglichkeit funktioniert. Es wird gar zu sehr als gigantische Werbeplattform missverstanden. Dabei folgt die Technik nach wie vor bestimmten Regeln, die man nicht so einfach per Gesetz aushebeln kann.

Technik ist ja immer eine recht sperrige Angelegenheit. Das geht bei der Kaffeemaschine los, die inzwischen mit einem ziemlichen Wälzer von Bedienungshandbuch daherkommt und ist beim Computer noch lange nicht zu Ende. Werfen wir also einfach mal einen etwas laienhaften Blick auf das, was das Internet als Technik so ist und wofür es einst gedacht war:

Der Ursprung geht zurück auf das ARPA-Net, das in den 60er Jahren vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium entwickelt wurde. Damals ging es darum, militärische Daten bestmöglich zu schützen und so wurde die Idee geboren, ein dezentrales EDV-Netzwerk zu schaffen, in dem Daten paketweise übertragen werden konnten.

Aus dieser Idee heraus wurde das ARPA-Netz geschaffen, in dem Ende 1969 vier Rechner in einem dezentralen Netzwerk verbunden waren.

Aus dem rein militärischen Netzwerk wuchs in den 70er Jahren die Vernetzung von wissenschaftlichen Einrichtungen über das ARPA-Netz. So konnten Forschungsprojekte über große Entfernungen gemeinsam durchgeführt werden, ohne dass Unterlagen verschickt werden oder Menschen durch die Weltgeschichte reisen mussten. Es war eine Zeit, in der der Austausch wissenschaftlicher Daten viel schneller und einfacher wurde, man konnte die Forschungsergebnisse anderer Einrichtungen in die eigene Forschung mit einbeziehen, was große Vorteile mit sich brachte.

Das ist der Grund für die sehr offene Architektur des Internet, wie wir es heute kennen. Das Betriebssystem des eigenen Computers spielt keine Rolle, die meisten Dateiformate sind plattformübergreifend (HTML ist das wichtigste, aber auch PDF und die verschiedenen Grafikformate können auf praktisch allen Geräten angezeigt werden). Egal, wo in der Welt man ist, die Information ist verfügbar.

Nachdem die Basis wissenschaftliche Arbeit ist, sind Verweise sehr wichtig. Wissenschaftliche Arbeiten, die seriös zu nennen sind, stehen meistens nicht allein, sondern beziehen sich oft genug auf die Arbeit anderer Wissenschaftler – und es wäre sehr schlechter Stil, nicht darauf hinzuweisen. Insofern strotzen wissenschaftliche Arbeiten üblicherweise vor Fußnoten und Verweisen auf andere Arbeiten.

Um eben das Nachlesen dessen, worauf verwiesen wird, zu erleichtern, gibt es die Links. Durch simples Anklicken kann man schnell und einfach den Bezug nachlesen, ohne sich mühselig durch Bücher quälen zu müssen, die in den Bibliotheken oft erst angefordert werden müssen.

Von dieser Warte aus gesehen ist das Internet natürlich eine ausgezeichnete Technik für jeden, der lernen oder forschen will und den Dingen auf den Grund gehen möchte. Der Grundsatz lautete „sharing is caring“, Teilen ist Fürsorge. Das gemeinsame Nutzen von Daten und damit von Wissen stand im Vordergrund, jeder hatte Zugriff auf eine fast unendliche Wissensquelle.

Um diese Wissensquelle sinnvoll nutzen zu können, braucht man natürlich auch die Möglichkeit, sie zu durchsuchen. Die vorhandenen Daten müssen sinnvoll katalogisiert und verschlagwortet werden und damit man eine Vorstellung davon hat, ob das, was man gefunden hat, auch das ist, was man sucht, braucht man einen kurzen Textausschnitt. Dafür gab und gibt es Suchmaschinen – die bekannteste ist Google.

Würden wir diese Technik an den Schulen nutzen, könnten wir alle unglaublich davon profitieren. Aber schon an dieser Stelle fängt das Drama der heutigen Zeit an:

In den letzten ungefähr 15 Jahren hat sich die Nutzung des World Wide Web (WWW), das sich aus diesen Vernetzungstechniken aus den 60er und 70er Jahren fast von selbst ergeben hat, rasant entwickelt. Gerade Unternehmen haben erkannt, welchen vertrieblichen Nutzen ein Angebot im WWW haben kann und es haben sich alle möglichen Vertriebsformen entwickelt. Manche davon kennen und nutzen wir alle: Amazon, eBay, die Onlineshops größerer und kleinerer Handelsunternehmen. Sie alle profitieren gewaltig vom Internet.

Diejenigen, die diese Entwicklung komplett verschlafen haben, sind Verlage und Unterhaltungsindustrie. Die Unternehmen aus dieser Sparte versuchen seit Jahren, die Entwicklung einzudämmen, die sie so viel kostet. Links und vor allem die Möglichkeiten für Downloads wurden plötzlich zu einer Gefahr, zu einem Fluch anstatt eines Segens. Die Vertriebsmodelle „CD“, „DVD“, „Zeitung“, „Zeitschrift“ und „Buch“, die noch vor 15 Jahren wirklich lukrativ waren, brachen in sich zusammen.

Nachdem es über einen viel zu langen Zeitraum keine Möglichkeiten gab, für Downloads eine Zahlung zu leisten, bürgerte sich Ende der 90er das Prinzip der Raubkopie ein, was der Einfachheit halber von den betroffenen Unternehmen als „Piraterie“ bezeichnet wurde – das ist übrigens der Ursprung des Namens der Piratenpartei, aber das nur am Rande.

Wer also am wenigsten von der Technik profitiert, die das WWW zur Verfügung stellt, sind Verlage und Unterhaltungsindustrie, die es versäumt haben, ihre Vertriebsmodelle dem Internet anzupassen. Buchverlage und Unterhaltungsindustrie haben sich inzwischen von dem Schreck erholt und bieten eBooks, Streams und Downloads selbst oder über entsprechende Anbieter an.

Wer die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt hat, das sind die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, die sich ja nicht nur über den Verkauf ihrer Produkte finanzieren, sondern schon immer auch über Anzeigen. Das tun sie auch in ihren online-Angeboten, auf teils recht störende Art. Bei vielen dieser Angebote hat man den Eindruck, dass die Information, die der angebotene Artikel liefert, Nebensache ist – das Wichtigste ist die Werbung. Die Werbeeinblendungen werden immer größer, immer bunter, immer aufmerksamkeitsheischender.

Das hat zur Entwicklung einer weiteren Technik geführt: Den Adblockern. Das sind meist Zusatzprogramme (Add-ons) zu Browsern, die die Anzeige der wirklich störenden Werbung verhindern und dafür sorgen, dass der Besucher sich auf den eigentlichen Grund für den Besuch auf der Website des Anbieters nicht konzentrieren kann: Das Informationsangebot, sprich: den Artikel. Das führt wiederum zu einem Einbruch der Werbeeinnahmen aus dem Internetangebot und irgendwoher muss das Geld ja kommen, mit dem man Journalisten bezahlt und die Server finanziert, auf denen das alles läuft. Jemand muss bezahlen.

Dank des schläfrigen Umgangs mit der technischen Entwicklung wird es schwierig, den jeweiligen Leser dafür bezahlen zu lassen. Wer etwas jahrelang gratis frei Haus bekam, der wird schlicht wegbleiben, wenn er neuerdings bezahlen muss. Damit sinken die „Klickzahlen“ noch weiter, denn auch bei Bezahlung muss etwas Werbung für die Finanzierung sein (und das ist ja auch ok, solange sie nicht blinkt und zappelt). Wer also profitiert denn noch von den Angeboten?

Und da ist man auf die Suchmaschinen verfallen. Suchmaschinen finanzieren sich selbstverständlich ebenfalls durch Werbung. Gegen Bezahlung kann man das eigene Angebot ganz nach oben in die Suchergebnisse schieben lassen (das wird dann auch als Anzeige gekennzeichnet). Aber Suchmaschinen – und gerade Google – durchsuchen natürlich auch gezielt Nachrichtenportale und geben Suchergebnisse mit kurzen Textausschnitten zurück. Das wird dann so gewertet, als würde der Suchmaschinenbetreiber sein Geld mit den Suchergebnissen verdienen, die da zurückgegeben werden. Das ist zwar so nicht ganz richtig, bietet aber eine schöne Grundlage, Politikern einzureden, dass die Suchmaschinen (und, weil’s gerecht ist, gleich noch jeder andere, der einen Link setzt) die Verlage an ihrem Gewinn beteiligen müssten.

So wird aus dem ursprünglichen Verweis auf eine Informationsquelle eine Handel sware, um die seit ein paar Jahren erbittert gestritten wird. Und wenn wir Pech haben, wird bald jeder Blogger, der sich in einem seiner Blogartikel auf ein Onlineangebot aus einem Verlagshaus bezieht, dafür bezahlen müssen, dass er dorthin verlinkt. Ein Screenshot aus dem Onlineangebot kann dann genauso kostenpflichtig werden.

Große Unternehmen wie Google wird das nicht treffen. Die werden schlicht eine Lizenzpauschale aushandeln, einen verhältnismäßig geringen Obulus bezahlen und dann weitermachen wie bisher. Was hier bedroht ist, ist die Meinungsvielfalt im Internet.

Blogs werden verschwinden, weil die Kosten für den Betrieb zu hoch sind – oder sie werden auf Quellenangaben verzichten, womit dann die Verifizierung nicht mehr möglich ist und die Glaubwürdigkeit leidet. Viel Kreativität wird verloren gehen, auch dadurch, dass alles, was ins Internet hochgeladen wird, verifiziert und gefiltert wird.

Das Gesetz, das da auf dem Weg ist, ist der Versuch, uns die Teilhabe zu nehmen, unsere Stimme zu dämpfen und uns zu den Konsumenten zu machen, die wir waren, als wir noch auf das Schreiben von Leserbriefen angewiesen waren. Ich denke, wir sollten uns dagegen wehren. Wir sollten dagegen aufstehen, unsere Stimme erheben und Politikern wie auch Verlagen deutlich zeigen, dass wir aus dieser Rolle herausgewachsen sind.

Die Menschen, die das Internet bestimmungsgemäß nutzen, sind interessiert an Information, an Austausch und an Kreativität. Sie sind nicht reine Konsumenten und sie wollen sich auch nicht zu reinen Social-Media-Klickschlampen machen lassen. Lasst uns gegen diesen hanebüchenen Unfug angehen, demonstrieren und aufklären, so gut wir können!

Quelle für die einführenden Absätze: https://wiki.selfhtml.org/wiki/Grundlagen/Einstieg/Entstehung_des_Internet