Schulsportfeste

Bild von einem Sportplatz, hauptsächlich die Laufbahn

Auf Bluesky gibt es gerade eine Diskussion zum Thema „Sportfest“. Der Auslöser war ein Post, in dem jemand erzählte, dass es im Sportfest der Schule jetzt keine Platzierungen und Sieger mehr gäbe, sondern nur noch Teilnehmer, weil es die Schwächeren diskriminieren könne, wenn andere viel besser seien. Es wurde nach Meinungen gefragt und ich habe eine.

Wenn eine Schule ein Sportfest veranstaltet, hat sie mehrere Möglichkeiten:

a) Schüler, die teilnehmen möchten, melden sich an für Wettbewerbe in den Sportarten, die sie bevorzugen.

Das kann dazu führen, dass es für Wettbewerbe keine oder nur wenige Teilnehmer gibt und es war übrigens mein einziger von einer Platzierung gekrönter Erfolg – ich habe in der Grundschule einmal den Wettbewerb im Skilanglauf gewonnen, weil ich die einzige Teilnehmerin war.

Es birgt also Nachteile für die Schule, so zu verfahren. Für die Schüler hat das den Vorteil, dass niemand, der sich an den Wettbewerben nicht beteiligen möchte, das tun muss und somit auch niemand verpflichtet ist, sich zu blamieren. Insofern wäre das meine bevorzugte Methode.

b) Alle Schüler sind zur Teilnahme verpflichtet.

Das kann dazu führen, dass exterm unsportliche Schüler (wie ich) regelmäßig an diesen Wettbewerben scheitern. Hier sehe ich die Schulen und auch die Elternhäuser in der Pflicht, denen, die scheitern, zu helfen, einen Umgang damit zu finden.

Damals, als ich noch jung war, mussten wir jährlich an den Bundesjugendspielen teilnehmen und wir haben es kollektiv gehasst. Der Ablauf war, dass wir an einem Schultag sämtlich auf dem Sportplatz auftauchen mussten und uns im 100-m-Sprint, Weitspringen und Schlagballwerfen (also einen Ball von ca. 5 cm Durchmesser so weit werfen, wie wir konnten) messen. Es mag sein, dass da noch andere Sportarten dabei waren, meine Erinnerung an diese Ereignisse ist nicht mehr sehr deutlich, weil es auch nicht wichtig war. Wir haben für unsere Leistungen Punkte bekommen und am Ende haben wir Urkunden ausgehändigt bekommen, die unsere Teilnahme bestätigten. Es gab zwei Arten von Urkunden, je nachdem, wie viele Punkte man bekommen hatte.

Aber zurück zum eigentlichen Thema, ein Wettbewerb mit verpflichtender Teilnahme. Wenn eine Schule so etwas veranstaltet, ist sie meiner Ansicht nach verpflichtet, die Schüler im Rahmen des Sportunterrichts darauf vorzubereiten. Die Schüler müssen wissen, dass die Teilnahme das Ziel ist, nicht das Gewinnen des Wettbewerbs. Sie müssen lernen, sich mit denen, die gewinnen, über den Erfolg zu freuen. Und besonders wichtig: Sie müssen lernen, dass eine schlechte sportliche Leistung kein Grund ist, Mitschüler zu schikanieren.

Verpflichtende Wettbewerbe sind eine gute Möglichkeit, Kindern zu zeigen, dass jeder Stärken und Schwächen hat und dass jede davon einen Wert in sich hat. Deswegen finde ich, dass selbst bei verpflichtenden sportlichen Wettbewerben die Erfolgreichen auch geehrt werden sollten – mit Urkunden, eventuell einer kleinen Medaille oder ähnlichem. Man kann den übrigen Teilnehmern auch eine Kleinigkeit in die Hand drücken, als Anerkennung für die Teilnahme. Was man in meinen Augen nicht tun sollte: Den Erfolgreichen den Erfolg mindern oder nehmen (das beraubt sie auf lange Sicht der Motivation) und den Erfolglosen die Möglichkeit nehmen, den Erfolg anderer anzuerkennen und sich mit ihnen zu freuen.

Boshaftigkeiten hat es schon immer gegeben und ich denke nicht, dass es möglich ist, das aus den Menschen herauszuerziehen; ich denke, dass Boshaftigkeit etwas ist, was Menschen ebenso innewohnt wie Gutartigkeit. Und so finde ich, dass es wichtig ist, dass schon Kinder lernen, damit umzugehen.

An dieser Stelle noch etwas zum Thema Schule allgemein: Ich bin ja nun vor sehr langer Zeit zur Schule gegangen und habe später die Elternseite mitbekommen (auch das ist jetzt schon eine ganze Weile her, mein Großer ist 31, der Kleine 28 Jahre alt). Und ich habe selbstverständlich meine Kämpfe zu führen und sicherlich viel zu kritisieren gehabt. Was mich etwas schockiert hat, als meine Kinder zur Schule gingen, war die Tatsache, dass die Lehrer ihren Erziehungsauftrag so vollumfänglich von sich gewiesen haben. Sie haben sich als Bildungsvermittler gesehen und nichts sonst. Das gehört zu den Dingen, die ich nicht verstehen kann.

Eltern können ihren Kindern eine Auswahl an Verhaltensweisen beibringen, die sie für wichtig und nützlich halten, wenn man sich innerhalb der Gesellschaft bewegen möchte. Die meisten Eltern tun das auch. Ob diese Auswahl nun mit den Regeln, die in einer größeren Gemeinschaft, wie es eine Schule ist, übereinstimmt oder ob diese Auswahl für diese größere Gemeinschaft ausreichend ist, ist eine andere Sache. Eine Schule ist, so wie ich sie verstehe, eine Übungsumgebung auch für eine andere soziale Umgebung als es die Familie ist. In der Schule lernen Kinder also nicht nur Deutsch, Mathe, Sachkunde und dergleichen, sondern sie lernen auch, wie man sich Menschen gegenüber verhält, die man nicht oder nicht so gut kennt wie die eigenen Familienmitglieder. Sie lernen, mit Aktionen und Reaktionen anderer umzugehen, die ihnen fremd sind. Das ist in meinen Augen ein ganz wichtiger Aspekt, den Schule vermitteln soll und muss.

Gerade der Unterricht in den „Begabungsfächern“ (MuKuTu – Musik, Kunst, Turnen) ist hier ein extrem wichtiger Aspekt. Dort lernt man, damit umzugehen, dass angestrengtes Arbeiten einen eben nur bis zu einem bestimmten Punkt bringt, dass hier und da eine Begabung notwendig ist und man lernt, anzuerkennen, dass andere besser sind als man selbst. Gerade Sport kann auch, wenn der Unterricht gut ist, Teamgeist lehren, aufeinander zu achten, miteinander zu arbeiten. Das ist etwas, was in den übrigen Fächern gerade wegen der Systematik, die an unseren Schulen herrscht, weit ins Hintertreffen gerät. Dort wird ständig verglichen, dort ist Zusammenarbeit größtenteils unerwünscht, dort schreibt jeder seine Hausaufgabe, seine Schulaufgabe, seine Klausur oder Prüfung allein und ist auf das Wissen angewiesen, das er sich angeeignet hat. Da wird Einzelkämpfermentalität gelehrt und damit auch Missgunst. Da kann Sport und auch ein Sportwettbewerb einen Ausgleich und einen Perspektivwechsel schaffen – es kommt halt immer sehr auf die Leute an, die unterrichten.

Und so laste ich es tatsächlich vor allem den Erziehern, die die Lehrer in meinen Augen sein müssen, an, wenn Schwächere in der Schulumgebung tatsächlich diskriminert werden, weil sie nicht die Leistung bringen (können), die andere bringen. Wenn das an einer Schule passiert, sollte man meiner Meinung nach nicht die Ehrung der Erfolgreichen abschaffen, sondern mit der gesamten Gemeinschaft daran arbeiten, Diskriminierung (Mobbing, Schikane, wie immer man es nennen will) zu sehen, zu benennen und zu beenden. Ich bin der Ansicht dass das geht. Es ist halt wirklich Arbeit – und nicht jeder Erzieher will diese Arbeit leisten.

Adipositas und Diabetesmedikamente

Bauch eines übergewichtigen Menschen

Letzten Sonntag habe ich aus Frustration und Enttäuschung einen Artikel geschrieben, in dem ich dafür plädiert habe, GLP-1-Rezptoragonisten doch bitte für Leute zu reservieren, die sie wirklich brauchen: Diabetiker und stark Übergewichtige. Zu diesem Plädoyer stehe ich durchaus weiterhin. Andererseits ist mir, während ich das alles schrieb, ein Aspekt untergegangen, der Übergewichtigen wirklich zu schaffen macht: Das soziale Stigma und die Tatsache, dass ich gerade deswegen durchaus großes Verständnis für die Off-Label-Verwendung der Medikamente habe. Also denke ich, dass es an der Zeit ist, über Adipositas (krankhaftes Übergewicht) zu sprechen.

Dicke Menschen haben den Ruf, disziplinlos zu sein. Da haben sie durchaus etwas gemeinsam mit Depressiven. Und nachdem ich durchaus übergewichtig bin, an einer chronischen Depression leide, Diabetes und dazu noch Gicht habe (das auch so eine Stoffwechselerkrankung ist, die demjenigen zugeschrieben wird, der sie hat), kenne ich die dämlichen Sprüche, die man da hört, nur allzu gut:

„Du musst dich doch nur vernünftig ernähren, dann nimmst du schon ab.“
„Beweg dich halt mehr, dann wird das schon!“

Solches und Ähnliches hören Übergewichtige oft – auch von ihren Ärzten. Man braucht Disziplin, man muss an sich arbeiten. Dass die Anstrengung dazu oft genug fast übermenschlich ist, ist denen, die dies alles sagen, mindestens unklar.

Übergewicht ist eine komplexe Erkrankung, die oft mit anderen Krankheiten Hand in Hand geht (sowohl Depression als auch Diabetes gehören dazu). Ich verstehe gut, dass dann „Abnehmspritzen“ eine erfolgversprechende Lösung darstellen. Eine ausführliche Darstellung des Problems insgesamt und auch einen kritischen, dabei aber wohlwollenden Blick auf die Erkrankung Adipositas habe ich bei Eckart von Hirschhausen; auf YouTube gefunden. Hier wird auch ein breiter Blick geworfen auf die neurologischen Hintergründe, die es Übergewichtigen wirklich richtig schwer machen, auf die Vorurteile gegenüber Dicken und auch auf die Vor- und Nachteile der Nutzung von GLP-1-Rezptoragonisten zur Unterstützung der Gewichtsreduktion. Ich denke, dass dieser 45-minütige Beitrag gut helfen kann bei der Einordnung der Erkrankung Übergewicht und hoffe, dass das auch hilft, meinen letzten Beitrag, der ja wirklich zum Teil aus der Frustration geboren wurde, die darauf folgte, dass ich das Medikament, das ich wirklich eigentlich brauche, nicht bekommen kann, ein wenig besser einzuordnen.

Bitte, seid mit Übergewichtigen nicht ungeduldig. Verurteilt sie nicht, denn die Erkrankung ist deutlich komplexer als man sich das so vorstellt – und Vorwürfe oder „mach doch einfach mal was anders“ helfen da nicht. Übergewichtige unterstützt man am Besten mit Verständnis. Es hilft auch, zu fragen, womit man helfen kann. Manchmal reicht es ja schon, einfach mal bei einem Spaziergang oder ins Schwimmbad zu begleiten, damit der vom Übergewicht geplagte Mensch nicht allein vor die Tür und sich damit den be- und verurteilenden Blicken der Mitmenschen aussetzen muss.

Welt-Diabetes-Tag – Tipps für einsame Diabetiker

Symbolbild: Auswahl an süßem Gebäck

Es ist so weit: Heute ist Welt-Diabetes-Tag. Ich habe Diabetes mellitus Typ 2 und bin ziemlich allein damit, insofern ist das eine gute Gelegenheit, ein paar Gedanken zum Thema niederzuschreiben.

Meine verstorbenen Verwandten hatten nicht viel zu vererben; Plattfüße, schlechte Zähne, krumme Wirbelsäule, Gicht, Diabetes. Nun, ich entstamme einer großzügigen Familie und habe in der Folge alles geerbt. Es gäbe theoretisch Schlimmeres, weniger gut Handhabbares. Heute reden wir mal über den Diabetes. Der ist einer meiner ältesten Bekannten, denn meine Großmutter mütterlicherseits hatte ihn. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört meine Oma, mit der ich abends vor dem Fernseher saß, während sie das Insulin in ihrem Spritzapparat (eine Art wiederverwendbarer Pen) aufzog und sich das Insulin in den Oberschenkel spritzte, der mit kleinen blauen Flecken vom Spritzen übersät war. Und ich weiß auch noch, wie sehr ich damals schon genau das nicht wollte.

Diabetes hatte lange Zeit den Ruf, nicht nur vermeidbar zu sein, sondern eine Erkrankung der Disziplinlosigkeit. In den Köpfen sehr vieler Menschen ist der Diabetiker jemand, der sich nicht beherrschen kann, der zu viel und falsch isst, der sozusagen selbst schuld ist. Wir Diabetiker brauchen grundsätzlich keine anderen Leute, um uns dahingehend Vorwürfe zu machen, das können wir problemlos selbst, denn Diabetiker haben ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko, an depressiven Störungen zu erkranken. Sind das nicht großartige Aussichten? Ja, fand ich auch.

Bei mir kam die Depression zuerst, das lag an sehr einschneidenden Ereignissen im Laufe meines Lebens. Der Diabetes kam dann so ungefähr 2015 dazu. Und, um ehrlich zu sein: Ich war beleidigt, sauer, traurig, hoffnungslos und sah mich mit blauen Flecken auf den Oberschenkeln vor dem Fernseher sitzen wie meine Oma. Ich bin heute noch nicht wirklich im Frieden mit dieser Stoffwechselerkrankung, aber die Selbstvorwürfe habe ich größtenteils überwunden.

Wenn ein Diabetes festgestellt wird, kommt hier in Deutschland eine Maschinerie in Gang: Die Krankenkasse macht Angebote, der behandelnde Arzt verordnet Medikamente, man bekommt Broschüren, ein Messgerät und Hilfen, um mit der Erkrankung umgehen zu lernen. Im Internet gibt es tonnenweise Information, es gibt Kochbücher, die zur Hälfte aus Information und zur anderen Hälfte aus Rezepten bestehen. Diabetes kommt um zu bleiben, der geht nicht weg. Mich hat das alles anfangs einigermaßen überwältigt, ich wusste gar nicht, worauf ich mich zuerst konzentrieren sollte.

Mein erster Rat an den geneigten Leser: Lassen Sie vorerst das Internet außen vor, vor allem wenn Sie mit dem Diabetes allein sind. Sicher, die Deutsche Diabetes Gesellschaft, die Deutsche Diabetes Hilfe, die Krankenkassen und auch das Bundesgesundheitsministerium bieten sehr gutes Informationsmaterial an, das macht am Anfang aber nur wuschig. Was für Sie jetzt, ganz am Anfang wichtig ist, ist ihr persönlicher Weg. Wenn Ihr Arzt oder Ihre Krankenkasse Ihnen eine Diabetikerschulung anbietet, dann nehmen Sie vorneweg erst einmal die in Anspruch.

Diabetikerschulungen haben mehrere Vorteile: Sie bekommen Information nicht nur darüber, was das jetzt eigentlich für eine Krankheit ist, die Sie da haben, sie lernen auch andere Leute kennen, die Diabetes haben und eventuell ähnlich enttäuscht von ihrem Körper sind wie Sie. Es ist einfach wichtig, mit einer chronischen Erkrankung nicht allein zu sein und sich bewußt zu machen, dass Sie an Ihrem Diabetes eben nicht selbst schuld sind. Zugegeben, ganz unvermeidlich war er nicht, aber gerade beim Typ 2 spielt das Erbe der Vorfahren doch eine signifikante Rolle.

Was dann als nächstes schwierig wird, vor allem für Singles, ist die Umstellung der Ernährung. Es gibt ein paar Tricks und Kniffe, die man relativ einfach in den Alltag einbauen kann und es gibt einiges, was gewöhungsbedürftig ist. Ich selbst habe insofern Glück, als ich Süßigkeiten nie wirklich gebraucht habe. Sicher, Weihnachten kommt auf uns zu und ich bin selbstverständlich ein großer Fan von Lebkuchen und Schokoladennikoläusen. Ostern ist auch ein kritischer Zeitpunkt, vor allem wegen der Eierlikör-Eier. Aber aufs Ganze gesehen komme ich ohne süßes Zeug aus, kann mittlerweile sogar meinen Kaffee ohne Zucker genießen, wenn ich genug Milch dazu bekommen kann und habe mir Zucker größtenteils abgewöhnt.

Es geht auch nicht darum, vollständig auf alles zu verzichten, was bisher das Leben kulinarisch lebenswert gemacht hat. Es geht um Reduktion und um Umstellung. Was mir die meisten Probleme gemacht hat, war die Umstellung auf Vollkornnudeln – da gab es zu Beginn meines Diabetes kaum preiswerte Produkte, die nicht nach einer Kombination aus Pappe und Schmirgelpapier schmeckten. Das hat sich inzwischen gottseidank geändert. Ansonsten war ich noch nie ein großer Fan von viel Fleisch, Wurst und Fett, insofern war das nicht wirklich problematisch. Mein Tipp an Sie: Wenn Sie einen Tiefkühlschrank haben, besorgen Sie Tiefkühlgemüse, von dem Sie wissen, dass Sie es mögen und horten Sie es, so dass Sie spontan kochen können.

Bücher, vor allem Kochbücher können helfen – müssen aber nicht. Ich rate zum Besuch der örtlichen Bibliothek, die üblicherweise einiges an Lektüre zum Thema vorrätig hat. Lesen Sie dort, bevor Sie sich zum Kauf entschließen. (Man kann das selbstverständlich auch in der Buchhandlung machen, aber nach einer Weile gucken die Leute dort etwas komisch, das kann zu unbeabsichtigten Spontankäufen führen, die Sie später bereuen.) Nutzen Sie gerade die Kochbücher vor allem dafür, die Ernährung während Ihres Arbeitstages diabetesgerecht zu gestalten. Wenn eine Kantine an Ihrem Arbeitsplatz vorhanden sein sollte, prüfen Sie diese auf Diabetikertauglichkeit (ich sage es Ihnen gleich: Sie werden enttäuscht sein). Wenn die Kantine untauglich ist, müssen Sie Ihr Mittagessen selbst mitbringen und bei der Zubereitung transportablen Essens sind so manche Kochbücher wirklich hilfreich.

Das, was am Schwierigsten zu bekommen ist, ist gleichzeitig das Wichtigste: Bewegung. Wenn Sie allein leben und den ganzen Tag arbeiten, kann es gut sein, dass Sie abends einfach keine Lust mehr haben, sich in Bewegung zu setzen. Das ist aber in der Tat der wichtigste Aspekt, wenn Sie Dominanz über den Diabetes erlangen möchten. Ich habe es mit einer Mitgliedschaft in einem Fitness-Studio versucht (völlig erfolglos), mit dem Erwerb eines handlichen, kleinen Steppers, mit dem ich vor dem Fernseher immer mal ein Weilchen üben kann (ich muss ihn demnächst wieder einmal entstauben), mit dem Plan, mindestens dreimal pro Woche einen etwa halbstündigen Spaziergang zu machen (mein innerer Schweinehund lacht diabolisch) – es ist nicht einfach. Setzen Sie sich erreichbare Ziele. Laufen Sie lieber zehn Minuten um dem Block als eine halbe Stunde durch den Wald, den Sie nur mit dem Bus erreichen können. Wichtig ist es zunächst, sich wieder an Bewegung zu gewöhnen, wenn Sie, wie ich, der Bewegung vollständig entwöhnt sind. Und tun Sie Dinge, die Ihnen Spaß machen, zumindest halbwegs.

Wenn Sie mit Ihrem Diabetes und dann eventuell noch einer Depression allein sind, brauchen Sie Verbündete und Information. Es ist nicht wirklich einfach beides in der verläßlichen Variante zu finden, aber mit ein wenig Hartnäckigkeit finden Sie, was Sie brauchen. Haben Sie Geduld mit sich, machen Sie sich keine Vorwürfe, leben Sie nach vorn, lassen Sie sich die Laune nicht vermiesen von einer Erkrankung, die droht, Ihr Leben zu beherrschen. Und gönnen Sie sich hier und da etwas Gutes, das ist wichtiger als endlose Selbstdisziplin und hilft beim Durchhalten.

Ich verlinke Ihnen hier die Deutsche Diabetes-Gesellschaft – wenn Sie Neudiabetiker sind, warten Sie aber wirklich besser mit der Lektüre bis zum Beginn einer Diabetikerschulung, damit Sie Leute haben, mit denen Sie über das dort Gelesene sprechen können.

 

Moralinsaurer Neopuritanismus

Langsam, aber sicher reicht es mir mit unseren Medien und der sogenannten Verdachtsberichterstattung. Das ist die Berichterstattung, die Anschuldigungen, Anwürfe, moralische Verwerflichkeiten und dergleichen mit seitenweiser Hingabe in aller epischen Breite, deren die sogenannten Journalisten fähig sind, vornehmlich auf unsere Bildschirme pflastert. Gerne verbunden, mit der Forderung, dem Übeltäter die Lebensgrundlage zu entziehen und ihn weitestgehend gesellschaftlich zu ächten. Oh, hehres Heldentum des moralinsauren Neopuritanismus!

Okay, lassen Sie mich eine Geschichte erzählen von einem Typen, der nun wirklich gar kein Sympathieträger ist. Dem Mann war kein Witz zu schlüpfrig, keine Pointe zu dreckig. Er hat viel über Sex geredet und als Standup-Comedian auch viel darüber „gescherzt“. Russell Brand. Ich persönlich finde den Kerl wirklich widerlich, aber nun, es gab einen Markt und ich bin nicht verpflichtet, mir das anzutun, was der Mann so von sich gibt.

Und dann kamen neulich die Daily Mail, BBC und Channel 4 damit um die Ecke, dass er ein sexsüchtiger Vergewaltiger sei. Und ja, wer seinem Werk hier und da über den Weg gelaufen ist, der wird sagen: Das passt zu ihm. So weit, so unklar, denn: Was wir bis heute, 23.09.2023, wissen, ist, dass Frauen sich mit ihren Geschichten an die Presse gewandt haben und die Presse diese Geschichten auch aufgegriffen hat. Sicherlich haben die Journalisten das, was sie da berichten, überprüft. Diese Prüfung ist aber himmelweit von einer gerichtsfesten Beweislage entfernt und deswegen nennt man das, was die Herrschaften da berichten auch

VERDACHTSBERICHTERSTATTUNG.

Das heißt, es steht ein Verdacht im Raum und der muss erstmal bewiesen werden. Lächeln und atmen, meine Damen und Herren. Denken Sie gerne, dass das zu ihm passt, kein Problem. Wenn es nur das wäre, dann bräuchte ich den Schrieb hier nicht zu schreiben.

YouTube, wo Russell Brand einen Kanal hat, hat reagiert, indem sie ihm die Möglichkeit entzogen haben, mit seinem Content Geld zu verdienen. Auf eine VERDACHTSBERICHTERSTATTUNG hin. Verdacht. Bisher kein gerichtsfester Beweis vorhanden.

Es gibt wohl, wenn ich das richtig überblicke, polizeiliche Ermittlungen. Das finde ich persönlich gut, denn dann können wir sehen, was da jetzt so alles genau dran ist. Wenn es ein Gerichtsverfahren gibt, wird es spätestens im Anschluß auch Akten geben, denen zu entnehmen ist, inwieweit der Verdacht sich bestätigt hat. Und wenn der Verdacht sich bestätigt, dann wird der Mann verknackt, das können Sie mir glauben, denn dann sind das üble Straftaten. Aber so weit sind wir noch lange nicht.

Das interessiert YouTube jetzt nicht, dort hat man Angst, dass der schlechte Ruf des Verdächtigen auf die Plattform zurückfällt und also bleiben die Videos zwar öffentlich (was dafür spricht, dass sie nicht gegen die YoutTube-Regeln verstoßen), aber sie bringen kein Geld mehr (und werden folglich auch nicht mehr so oft angezeigt, was sie auf längere Sicht in Vergessenheit geraten lässt). Nachdem Russell Brand inzwischen wohl hauptsächlich von seinen Aktivitäten in sozialen Medien lebt (YouTube, TikTok, Rumble, Instagram, dergleichen), ist das in der Tat mit einer Bedrohung seiner Lebensgrundlage verbunden. Auf einen Verdacht hin!

In Deutschland scheint da nicht so sehr viel anzukommen – um auf Twitter etwas darüber zu finden, musste ich gezielt nach ihm suchen, die Hashtags sind nicht im Trend. Unsere „Qualitätsmedien“ berichten selbstverständlich, allerdings muss man da auch auf die Suche nach dem Namen gehen, meine Lieblings-Klatschsendung im Fernsehen sagt nichts dazu. Aber Russell Brand ist in Deutschland wohl auch weniger bekannt, da ist er nicht so unglaublich interessant.

Was mich aber anficht: Kein Medium, das ich bisher gesehen habe, unterscheidet zwischen Recht, Gesetz und Moral – und das nicht erst seit diesem Fall. Es gibt sogar in den Tiefen des Internet ein Buch, das eine Anleitung zur sozialen Zerstörung von Männern enthält. Inhalt in Kürze: Formuliere erst den Verdacht, sorge für Berichterstattung in den Medien und hol dann die Behörden ins Boot. Und gerade wenn dieser Verdacht mit Sex und unmoralischem bis kriminellem Verhalten bezüglich Sex zu tun hat, funktioniert das ganz fabelhaft. Greg Ellis, ebenfalls ein britischer Schauspieler, hat seine Erlebnisse mit diesem Vorgehen in einem Buch zusammengefasst und veröffentlicht (The Respondent) und der Prozess, den Johnny Depp gegen seine geschiedene Frau geführt hat, ist vielen auch noch in Erinnerung. Letzterer Fall ist ein Lehrbeispiel für das oben angeführte Vorgehen.

Die Menschen, die beschuldigt werden, ohne sich schuldig gemacht zu haben (oder in einem wesentlich geringeren Ausmaß als berichtet), werden für den Rest ihres Lebens mit den Vorwürfen zu kämpfen haben – auch das sehen wir gerade am Beispiel Johnny Depp, der nun mit „Jeanne du Barry“ einen neuen Film in die Kinos gebracht hatte, in Frankreich auf französisch gedreht und in Cannes vorgestellt. Kein Bericht über den Film, der nicht mindestens in Kürze den Zivilprozess gegen die geschiedene Gattin erwähnt hätte, wenige, die darauf verzichtet haben, noch einmal moralische Zweifel zu äußern.

Die sozialen Medien feiern große Erfolge, das Befinden der Betroffenen wird dem Anzeigenverkauf untergeordnet. Letztlich handelt es sich in den meisten Fällen um das, was so schön „Clickbait“ (Klickköder) genannt wird. Sex sells und moralische Überlegenheit erst recht. Ja, es tut gut, sich wertvoller zu fühlen als ein überbezahlter Schauspieler, ein bekannter Moderator oder einfach ein Mann, der auf andere Weise zu Ruhm, Ehre und Bekanntheit gekommen ist. Und wenn man das fühlen kann, ohne dass es eine Anzeige, eine formelle Anklage oder gar ein strafrechtliches Urteil gibt, dann macht man das eben, auch (und gerade), wenn man selbst hier und da mal Dinge getan hat, die moralisch nicht so ganz einwandfrei sind. Hauptsache, man ist besser als dieser reiche, berühmte Mensch, Hauptsache, man kann fordern, dass der soziale Kopf rollt und der Unmensch nie wieder mit seinem öffentlichen Auftreten Geld verdient!

Damit nicht genug. Das britischen Parlament hat ein Komitee für Kultur, Medien und Sport und da gibt’s auch eine Vorsitzende, Dame Caroline Dinenage (der Titel ist übrigens in etwa das Äquivalent zur deutschen Freifrau, wenn ich mein Wörterbuch richtig deute). Und diese Dame (Wortspiel beabsichtigt) hat nun Briefe geschrieben, und zwar unter anderem an BBC, Channel 4, Sun und TikTok.

Die Briefe sind auf der offiziellen Website des Parlaments in einer Meldung vom 19. September zu finden. Es gab dann offensichtlich auch noch Briefe vom 20. September, die ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben, zum Beispiel an Rumble, die in den sozialen Medien zu finden sind, nicht aber auf der Website des Parlaments.

Inhalt, kurz gesagt: Die Ausschussvorsitzende hofft sehr, dass der jeweils Angeschriebene dafür sorgt, dass Russell Brand keinerlei Einnahmen mehr aus seinen Internetaktivitäten erzielen kann und man sich freundlicherweise an der Ächtung des Herrn in sozialen Netzwerken beteiligen möge.

Das eröffnet einen neuen Aspekt, vor allem bezüglich des Einspannens von Institutionen für eigene Zwecke. Wenn man einen parlamentarischen Ausschuss vor den Verdachtskarren spannen kann, hat das wirklich eine ganz neue Qualität und das ist keine gute. Wenn Behörden Einfluß auf Unternehmen auszuüben versuchen, um einzelne Menschen in ihrer (Berufs-)Tätigkeit einzuschränken und ihnen vielleicht sogar die Lebensgrundlage zu entziehen, dann sind wir an einem Punkt, der mir persönlich viel zu nah am Totalitarismus ist. Das darf meiner Ansicht nach nicht passieren, noch nicht einmal, wenn es eine strafrechtliche Verurteilung gibt. Das darf einfach nicht passieren, egal, wie man zu den Anwürfen, dem Verdacht oder der nachgewiesenen Tat steht.

Mein persönliches Vorgehen, wenn ich solche Berichterstattung (oder Beiträge in sozialen Medien) sehe:

1.) Gibt es polizeiliche/staatsanwaltliche Ermittlungen?
2.) Wird die Person, die den Vorwurf erhebt, namentlich genannt? Wird ein Bild veröffentlicht?
3.) Wenn die Antwort auf den zweiten Punkt „ja“ lautet: Wurde Strafanzeige erstattet?
4.) Wenn nein: Womit wurde der Verzicht auf eine Strafanzeige begründet?
5.) Wurden schwere Verletzungen angegeben? (Knochenbrüche, offene Wunden, Prellungen, die sichtbar gewesen sein müssten)
6.) Wenn ja: Gibt es medizinische Dokumentation?

Das klingt alles recht kalt, sicher. Wenn man sich aber auf diese Art durch die entsprechenden Artikel hangelt, erfasst man recht schnell, ob die Grundlage der Berichterstattung solide oder doch eher brüchig ist.

Beispiel: Ein Faustschlag ins Gesicht mit einer Hand, an deren Fingern große Ringe stecken, hinterläßt Spuren, die man nicht ohne ärztliche Hilfe einfach so abheilen lassen kann. Die davon verursachten Schwellungen kann man nicht durch Kühlen beseitigen und überschminken kann man solche Verletzungen nur eingeschränkt. Und wenn man Schauspielerin von Beruf ist und einen Nasenbeinbruch erleidet, dann wird man sich schnellstmöglich beim nächstgelegenen Facharzt melden. Dann gibt es medizinische Unterlagen, die die Verletzungen dokumentieren, egal, welche Story man dem Arzt erzählt hat. Wenn man so etwas aber einem Journalisten erzählt, der das für bare Münze nimmt und prompt berichtet, ohne nach den Behandlungsunterlagen zu fragen, dann stimmt da halt etwas nicht und als Leser sollte man durchaus misstrauisch werden und mit der Verurteilung des Verdächtigen sehr zurückhaltend sein. Das ist jedenfalls meine Meinung.

Und deswegen schreibe ich diesen Artikel: Damit Sie, lieber Leser, liebe Leserin, gerade Verdachtsberichterstattung hinterfragen, vor allen Dingen dann, wenn es darum geht, einen Menschen sozial zu ächten und seine berufliche Existenz zu vernichten. Oft genug finden sich in sozialen Medien nämlich eben solche Anschuldigungen gegenüber „ganz normalen“ Menschen, verbunden mit der Aufforderung zur Ächtung. Da liest man dann auch von Leuten, die mit der Angelegenheit nichts zu tun haben, dass sie den Arbeitgeber des Verdächtigten kontaktiert hätten mit der Frage, ob so ein moralisch fragwürdiger Mensch wirklich dort beschäftigt werden müsse.

Es ist einfach, einen Mob zu entfesseln und es ist bedauerlicherweise auch einfach, in den Sog eines solchen Mobs hineingezogen zu werden. Achten Sie bitte darauf, dass Ihnen das nicht passiert. Hinterfragen Sie solche Meldungen und halten Sie sich zurück, bis der Nebel der Anschuldigungen sich lichtet und ein klarer Blick auf die Tatsachen möglich ist.

Was mich an solchen Berichten am allermeisten wütend macht, ist der Schaden, den sie für die Opfer tatsächlicher Gewalttaten anrichten. Es ist nicht möglich, einem Opfer einer Gewalttat einfach so zu glauben, da ist immer eine Prüfung vonnöten. Und je intensiver in der Berichterstattung die Wahrheit verbogen wird, je mehr gelogen oder übertrieben wird, desto schlimmer wird es für die Menschen, die tatsächlich Gewalt erlebt haben und den Nachweis darüber führen müssen. Desto angstbesetzter wird der Gang zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft. Desto größer die Furcht, man könne ihnen nicht glauben. Und das ist das ganz besonders Perfide.

Achten Sie auf das, was Sie unwidersprochen glauben. Suchen Sie nach Quellen und suchen Sie nach Lücken in der Berichterstattung. Und springen Sie nicht auf den Karren auf, der durch soziale Medien rollt, auf dem die Menschen sitzen, mit Steinen werfen und „hängt ihn höher“ brüllen. Auch wenn der Verdächtigte ein wirklich, wirklich unsympathischer, schmieriger, widerwärtiger Typ ist. Das heißt noch lange nicht, dass alles stimmt, was man über ihn sagt. Warten Sie ab, es eilt nicht.

Weiterführende Links zum YouTube-Kanal „BlackBeltBarrister“:
Russel Brand: This is the ONLY truth of the matter thus far
Russell Brand: UK Government Committee Steps in
Committee Writes to X Corp about Russell Brand

Welttag der Sozialen Gerechtigkeit

2009 haben die Vereinten Nationen den Welttag der Sozialen Gerechtigkeit eingeführt; er soll an das Leitbild der sozialen Gerechtigkeit der Gemeinschaften erinnern, nach dem die Verteilung der Güter den vorherrschenden ethischen Prinzipien entspricht. Vorgestern war es mal wieder so weit und irgendwie scheint das untergegangen zu sein. Hier dann also ein paar Gedanken dazu.

Die gute Frage ist, was soziale Gerechtigkeit denn so eigentlich ist, vor allem, wenn man sie weltweit betrachtet. Es gibt so viele Unterschiede, so viele verschiedene Ansichten darüber, was Gesellschaft ist und was Gerechtigkeit. Wenn wir uns US-amerikanische Krimis ansehen, dann kann Gerechtigkeit durchaus den Tod bedeuten – vor allem den derer, die vorher das Leben anderer genommen haben. Bringt die Todesstrafe aber wirklich Gerechtigkeit? Ich bezweifle das. Oder die indigenen Völker Amerikas: Welche Gerechtigkeit widerfährt denen? Sie haben vollkommen andere Vorstellungen von dem, was Gesellschaft ist, wie Zusammenleben funktioniert – und auch davon, was gerecht ist. Dafür wurden sie von der Entdeckung Amerikas an belogen, betrogen und ermordet. Sie wurden „bekehrt“, damit der christliche Glaube sie Demut lehre und dafür sorge, dass sie anerkennen, dass das Land in kleine Häppchen aufgeteilt und einzelnen Menschen als Eigentum zugesprochen werden kann. Ein Konzept, das ihrer Kultur vollkommen fremd war. Ebenso die Seßhaftigkeit, denn die Mehrheit der indigenen Völker waren Nomaden.

Die asiatische Kultur, je nach Zeitalter und Standort, ist uns hier im Westen fremd, so manches erscheint uns hoch kultiviert, anderes wieder barbarisch. Die Wurzel, aus der die heutige chinesische Regierung entspringt, ist genau diese, auch wenn wir das nicht anerkennen wollen. Die totale Überwachung der Menschen dort, das Vergeben von Punkten für Wohlverhalten mag dem einen Freiheit, dem anderen eine Fessel bedeuten.

Wir, der „Westen“, die wir uns hoch zivilisiert wähnen, leben auf Kosten derer, deren Arbeitskraft wir besonders billig bekommen können – für Fünf-Euro-T-Shirts und billige Leberwurst. Was also wäre soziale Gerechtigkeit?

Ich halte es da mit Friedrich dem Großen, auch wenn der mit dem folgenden Zitat „nur“ auf Religionsfreiheit abzielte:

In meinem Staate kann jeder nach seiner Façon selig werden.

In meinen Augen lässt sich das ganz gut auf alle Lebensbereiche ausdehenen. Jeder sollte und kann seine Kultur pflegen – solange er die anderen nicht einschränkt. Jeder sollte und kann seine Religion ausüben – solange er nicht anderen diese Religion aufoktroyiert. Jeder sollte und kann er selbst sein – solange er nicht anderen vorschreibt, so zu sein wie er.

Bei der Vielfalt an Kulturen, Religionen, Lebensentwürfen, Vorstellungen von Glück wird es schwierig, soziale Gerechtigkeit zu erreichen – es sei denn, wir würden tatsächliche Toleranz lernen. Mehrheiten, die einfach aushalten und anerkennen, dass es Minderheiten gibt; und umgekehrt. Dazu müssen wir zuvorderst lernen, nicht alles als „Haß“ zu bezeichnen, was eigentlich Unverständnis ist oder auch eine Grenze, die der Betreffende nicht zu überschreiten bereit ist. Wir müssen lernen, unsere Empörung auf ein sozialverträgliches Maß herunterzukochen und Entscheidungen zu treffen.

Oft genug passiert es, dass wir Gerechtigkeit mit anderen Dingen verwechseln: Wirtschaftlicher Status ist da ein gutes Beispiel. Ist es sozial gerecht, wenn wir einem afrikanischen Bauern denselben wirtschaftlichen Status wünschen wie uns selbst? Oder ist nicht etwa der Wunsch nach einem entbehrungslosen, zufriedenen Leben für diesen Bauern näher an sozialer Gerechtigkeit? Reichtum ist auf der einen Seite nicht alles, auf der anderen Definitionssache. Reichtum kann es auch sein, genug zum Leben zu haben und gleichzeitig das Leben genießen zu können. Dazu muss man nicht zweimal jährlich in Urlaub fahren, jedes Wochenende in die Disco (Verzeihung: in den Club) gehen und auch nicht jeden Tag ein deftiges Fleischgericht zu sich nehmen. Auskommen mit dem Einkommen, das tun zu können, was man tun möchte, mit den Menschen Zeit zu verbringen, die man liebt.

Aber einfach mal zurück in unser Land: Ist es gerecht, wenn die einen sich dem Kunstgenuss (inklusive Champagner) in der Elbphilharmonie hingeben und die anderen so wenig haben, dass sie noch nicht mal eine eigene Wohnung bezahlen können? Ist es gerecht, dass Eltern jeden Monat das Kleingeld abzählen müssen, damit ihr Kind zweimal im Monat schwimmen gehen kann? Sicher nicht.

Soziale Gerechtigkeit lässt sich meiner Ansicht nach nur räumlich begrenzt erreichen. Dazu sind die Wünsche und die Sehnsüchte der Menschen weltweit viel zu unterschiedlich. Es ist ehrenvoll, sich dafür einzusetzen, dass wir in unseren „zivilisierten“ Ländern für die Zwiebeln und den Kaffee genug bezahlen, um soziale Gerechtigkeit in den Herstellerländern zu ermöglichen. Wichtig ist, dass wir uns hier darum kümmern, dass die Menschen vor Ort soziale Gerechtigkeit erfahren – und das nicht nur wirtschaftlich. Zur Teilhabe an der Gesellschaft gehört die Anerkennung des Menschen so, wie er ist. Und das ist verdammt schwer, wenn uns andere Menschen fremd sind, sie anders reagieren als wir und sie anders aussehen als wir. Diese Unterschiede zu sehen und anzuerkennen ohne zu urteilen, das ist es, was wir zunächst anstreben sollten. Das ist meine Meinung. Die muss niemand teilen. Aber sagen muss ich sie jederzeit dürfen.

Hausfrauentag

Hausfrau auf dem Balkon beim Wäsche aufhängen

Der kleine Kalender teilt mir mit, dass heute der Hausfrauentag ist. Hausfrauen sind Menschen, die immer noch mit der Arroganz der arbeitenden Bevölkerung leben müssen, weil sie ja „nichts tun“. Gut, es ist nicht die gesamte arbeitende Bevölkerung und es ist auch richtig, dass es Hausfrauen gibt, die tatsächlich nichts tun. Trotzdem sind da einige Vorurteile eingefahren, über die wir reden müssen – einerseits der Hausfrauen wegen, andererseits wegen der Frauen, die nicht zuhause bleiben wollen oder können.

Das Hausfrauendasein fängt üblicherweise harmlos an. Oft genug mit Heirat. Heiraten, verstehen Sie mich nicht falsch, ist schön. Es ist wunderbar, einen Menschen zu haben, auf den man sich so rückhaltlos verlassen kann, dass man ihm verspricht, immer für ihn da zu sein, komme, was da wolle. Und es ist so schön, selbst dieses Versprechen zu geben und die ganze Hoffnung und den Optimismus zu leben, die mit diesem Versprechen einhergehen. Die meisten Hausfrauen bleiben nicht direkt nach der Heirat zuhause, sondern erst, wenn das erste Kind da ist.

Was tut eine Hausfrau? Nun, sie verrichtet all die niederen Dienste, die von unserer Gesellschaft wirklich schlecht bezahlt und auch wenig gewürdigt werden. Jeder möchte sich gerne in einer sauberen Dusche waschen, niemand hat Lust, sie zu putzen. Jeder möchte gern drei Mahlzeiten täglich serviert bekommen, niemand hat Lust, sie zuzubereiten. Alle wollen die schöne Aussicht genießen, niemand mag die Fenster putzen. Hausfrauen organisieren die Familie, sorgen für saubere Wäsche, frisch bezogene Betten, saubere, aufgeräumte Wohnungen, warme und kalte Mahlzeiten, gepflegte Gärten, sie pflegen die kranken Familienmitglieder, sorgen dafür, dass alle pünktlich da sind, wo sie sein sollen und alles dabei haben, was sie brauchen, ob Schule, Sportverein, Ballettunterricht, Schwimmstunden oder Arbeitsplatz. Ein Unternehmen, das Staubsauger herstellt, warb mal mit dem schönen Spruch „Ich leite ein gutgehendes kleines Familienunternehmen“. Wie wahr.

Der Job einer Hausfrau hat viele Facetten; für manches braucht man wenig bis keine Vorkenntnisse, für anderes wie beispielsweise die Beaufsichtigung der Hausaufgaben der Kinder, sollte man zumindest wissen, wie es geht. Die Kommunikation nach außen und innerhalb der Familie liegt meistens auch bei den Frauen, ebenso wie die Verwaltung des Budgets. Das ist alles nicht ohne. Hausfrauen tun also sehr vieles, was wir gerne übersehen oder als Selbstverständlichkeit hinnehmen. Viele von uns sind damit aufgewachsen und unsere Mütter haben uns im Idealfall nicht merken lassen, wie anstrengend und herausfordernd diese Arbeit ist. Nichtsdestoweniger hat die Tatsache, dass Hausfrauen für ihre Tätigkeit nicht bezahlt werden, bei ihren Ehepartnern mitversichert werden und für Kindererziehungszeiten nur Rentenversicherungspunkte während der ersten drei Lebensjahre der Kinder bekommen, den Wert von Frauenarbeit gegen Null gedrückt. Das ist falsch, so falsch.

Was ist denn ein sauberes Büro, ein hygienisch einwandfrei gewischter Krankenhausflur, ein sauberes Treppenhaus und eine spiegelblanke Teeküche so wert? Das werden wir erst erfahren, wenn wir es nicht mehr haben. Wann hat das Reinigungspersonal zuletzt gestreikt, um Arbeitsbedingungen oder Bezahlung zu verbessern? Frauenarbeit, wertlos, Kampf um Anerkennung sinnlos, so sieht es aus. Was ist die Nachhilfe für das Kind, das Probleme in Mathemathik hat, wert? Warum werden Kindergartentanten, Hortpersonal und Grundschullehrer so schlecht bezahlt? Was macht die Arbeit der Gymnasiallehrerin wertvoller?

Wenn wir denen, die klassische „(Haus-)Frauenarbeit“ tun, das bezahlten, was sie wirklich wert sind, wir würden arm dabei. Und so leben tausende von Hausfrauen damit, dass sie nicht bezahlt werden für einen 24/7-Arbeitsplatz ohne Aussicht auf Verbesserung, Sekretärinnen, Friseurinnen, Reinigungskräfte, Servicepersonal, Verkäufer, Pflegekräfte müssen damit leben, dass ihre Arbeit nicht viel wert ist.

Ein Blick auf die Scheidungsquote in Deutschland zeigt auch, wie viele Menschen in Deutschland vor den Trümmern gebrochener Versprechen stehen und zusehen müssen, wie sie sich über Wasser halten. In Deutschland gab es 2020 2.088.000 alleinerziehende Mütter und 435.000 alleinerziehende Väter. Oft genug müssen diese Menschen gewaltige Abstriche machen, um überhaupt Erwerbsarbeit leisten zu können. Elternteile, die sich um Kinder kümmern müssen, gelten als Unsicherheitsfaktor. Sie können jederzeit ausfallen, wenn das Kind krank wird, deswegen kann man ihnen keine verantwortungsvolle Arbeit übertragen; wenn das Kind während einer Probezeit zu oft krank ist, beendet man den Vertrag lieber. Das ist das gute Recht der Arbeitgeber. Sie brauchen sicherlich verläßliche Arbeitskräfte, ganz klar. Es ist und bleibt kompliziert. Ich erwähne das alles auch nur, um zu illustrieren, dass die Entscheidung für ein Hausfrauendasein vielleicht nicht ganz so leichtfertig getroffen wird wie die Zyniker unter uns sich das denken – und manchmal ist es auch nicht wirklich ein selbstgewähltes Schicksal.

Ich vertrete schon sehr lange die Auffassung, dass die Arbeit von Frauen aufgewertet werden muss, vor allem im Kleinen. Es nützt uns nichts, wenn wir damit anfangen, den Konzernen eine Frauenquote für die Chefetage aufzuzwingen. Das bringt nur mehr Frauen mit betriebswirtschaftlichen Argumenten in die Chefetagen – und die wenigsten von ihnen denken über ihre Geschlechtsgenossinnen am unteren Ende der Karriereleiter nach. Nein, es geht darum, dass wir uns bewußt machen, was Frauen, gerade Hausfrauen leisten – und was uns gesellschaftlich verloren geht, wenn wir sie nicht in Anspruch nehmen können. Es braucht ein Bewußtsein für den Wert, den wirklichen, gesellschaftlichen Wert der Arbeit, die oft so verächtlich als „Frauenarbeit“ abgetan wird. Diese Frauen brauchen keinen Applaus, sie brauchen echte, ehrliche Anerkennung. Sie brauchen Rentenansprüche, sie brauchen eine dem unschätzbaren Wert ihrer Arbeit zumindest annähernd entsprechende Entlohnung. Sie brauchen keinen Muttertag, sie brauchen Selbstbewußtsein und Selbstverständnis.

So, wie viele Männer mit dem Selbstverständnis zur Arbeit gehen, für ihre Familie zu sorgen, indem sie genügend verdienen, sollten Hausfrauen das Selbstverständnis entwickeln, dass sie das erst möglich machen – und die Anerkennung der Gesellschaft dafür.

Beitragsbild: Valter Cirillo auf Pixabay

Ermittler, Richter – und dann auch noch Henker?

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Das Phänomen der Cancel Culture ist nicht wirklich neu. In Newsgroups, Foren und auf Message Boards kam es schon in den Anfangszeiten des Internet immer wieder einmal vor, dass Menschen für ihre Äußerungen öffentlich beschämt wurden. Der erste Fall, der mir in Erinnerung ist, war Justine Sacco, die auf ihrem Flug von New York nach Cape Town einen Tweet geschrieben hat, der innerhalb kürzester Zeit Wut und Empörung auf Twitter auslöste. Die Konsequenz war, dass sie, als sie in Cape Town aus dem Flugzeug stieg, keinen Arbeitsplatz mehr hatte, weil die empörten Twitter-User ihren Arbeitgeber informiert und auf ihre fristlose Kündigung gedrängt hatten. Dieser Erfolg hat die Gemeinschaft derer, die sich berufen fühlen, in sozialen Netzwerken für vermeintliche Gerechtigkeit anzutreten, derart beflügelt, dass sich daraus eine richtiggehende Kultur – eben die Cancel Culture – entwickelt hat.

Die freie Äußerung einer Meinung ist in Deutschland vom Grundgesetz garantiert. Sagen darf man hierzulande fast alles, man darf nachweisbare wissenschaftliche Erkenntnisse in Zweifel ziehen, man darf Rassist sein oder Misogynist. Alles das darf man – auch wenn es natürlich Konsequenzen nach sich zieht. Üblicherweise endet man, wenn man sich rassistisch, frauenverachtend, wissenschaftsfeindlich oder auf andere Weise gesellschaftlich nicht anerkannt äußert, in einer gewissen Isolation, die einem nur noch den Weg in Gruppen, die diese nicht anerkannten Meinungen teilen, übrig lassen. Nichtsdestoweniger ist die freie Meinungsäußerung so gestaltet, dass wirklich nur dann eingegriffen werden kann, wenn der, der sich äußert, sich dabei auch strafbar macht. Als krassestes Beispiel nenne ich die Leugnung des Holocaust.

Darüber hinaus findet die Meinungsäußerung ihre Grenzen in den Straftatbeständen der Beleidigung, der üblen Nachrede und der Verleumdung (der Gesamtkomplex dieser Straftaten findet sich in den §§185 – 200 des Strafgesetzbuchs). Diese Delikte werden nicht von Amts wegen verfolgt, hier muss derjenige, der glaubt, beleidigt oder verleumdet worden zu sein, Anzeige erstatten; man nennt das Antragsdelikt. Insgesamt ist dieser strafrechtliche Komplex etwas kniffelig, weil hier jeweils eine sorgfältige Würdigung stattfinden muss, die sicher auch den Zusammenhang, in dem die jeweilige Äußerung getätigt wurde, mit beleuchten soll.

Ein Kurznachrichtendienst hat das nicht nötig. Als Justine Sacco ihren Tweet absetzte, hatte man 140 Zeichen zur Verfügung, um seine Gedankenfetzen ins Internet zu blasen. In den seltensten Fällen schrieb jemand einen Thread (also mehrere Tweets, die zusammenhängend sozusagen an einem Faden [Thread] zusammenhängen), so dass praktisch jeder Tweet für sich allein stand und jeweils vom Leser so interpretiert werden konnte, wie der die Nachricht eben sah. Hat jemand nachgefragt, um die Äußerung einzuordnen? Natürlich nicht. Justine war im Flugzeug und hatte ihr Handy ausgeschaltet. Und selbst wenn sie sofort hätte gegensteuern können, hätten die aufgebrachten Twitter-User ihr vermutlich nicht geglaubt.

Diese Unart, Menschen in sozialen Medien für jede auch noch so dumme, unbedachte Äußerung zur Rechenschaft zu ziehen (neudeutsch: „call out“), bringt denen, die sich im Kreise der „Gerechten“ wähnen, ungefähr dieselbe Befriedigung wie weiland der Dorftratsche, die die ungeliebte Nachbarin der Hexerei bezichtigte – und wenn es möglich wäre, das Internet zu nutzen, um Menschen zu lynchen oder auf den Scheiterhaufen zu stellen, wäre das inzwischen gang und gäbe. Die gerechten Teilnehmer der sozialen Gerechtigkeitsliga ermitteln die Missetäter, sie legen die Strafe fest und hängen sie virtuell – indem sie dafür sorgen, dass diese Unmenschen ihren Arbeitsplatz verlieren, von ihrem sozialen Umfeld geächtet werden und letztlich isoliert dastehen.

Dass dieses Verhalten mittelalterlich ist, ist den meisten nicht bewußt. Sie hassen die Polizei, die „nichts tut“, sie misstrauen den Gerichten und sie machen die Social-Media-Gesetze, nach denen geurteilt wird. Sie prügeln Netzwerkdurchsetzungsgesetze durch, die ohne sie gar nicht notwendig wären, weil unsere Gesetze gut genug sind, wenn sie denn vernünftig angewendet würden. Und sie schämen sich auch nicht, wenn sich herausstellt, dass sie jemanden zu Unrecht den Arbeitsplatz gekostet haben, wenn sie den falschen Mann die Familie gekostet haben, denn sie sind die Gerechten und die eine oder andere falsche Hexe, die verbrannt wird, muss man halt in Kauf nehmen, wenn man alle Hexen erwischen möchte, nicht wahr?

Dieses Verhalten hat bedauerlicherweise vor allem auf die Regenbogenpresse abgefärbt. In der Hoffnung, als Erster zu berichten, den ersten Artikel vertwittern zu können, damit man die Aufmerksamkeit der Teilnehmer in den sozialen Medien und damit Klicks bekommt, wird oft auf ernsthafte Recherche verzichtet. Umgekehrt, wenn in Social-Media-Nachrichten Gerüchte in die Welt gesetzt werden, kann es gut und gern passieren, dass jemand sich plötzlich einem wirklich abscheulichen Vorwurf ausgesetzt sieht, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was hier eigentlich los ist.

Und so lesen wir in Internet-Erzeugnissen von „Bild“ über „Spiegel“ und „Bunte“ bis hin zur „FAZ“, dass Menschen, die mehr oder weniger bekannt sind, ihre Frauen schlagen, ihre Männer betrügen, ihre Familien verlassen und ihre Fans enttäuschen. Manchmal kann man auch irgendwelche Gerichtsurteile einflechten, die man zwar nicht gelesen hat (ja, noch nicht einmal das Verfahren selbst verstanden hat), aber das macht nichts, solange die Empöreria der Gerechten klickt und teilt, was das Zeug hält. Das bringt Werbeeinnahmen, damit wird sehr, sehr viel Geld verdient.

Ja, und so rutschen wir in eine Desinformationsgesellschaft, denn was mit der Gattin des Präsidenten oder dem Sohn des bekannten Schauspielers klappt, das geht natürlich auch mit Wissenschaftlern und deren Erkenntnissen, das funktioniert mit Politikern, Regierungen, Stadtverwaltungen, Pharmaunternehmen und, und, und. Natürlich glaubt Lenchen, die den schönen Jüngling, der den Liebhaber in ihrer Lieblingssoap spielt, für einen verachtenswerten Vergewaltiger hält, nicht daran, dass in Impfstoffen von Bill Gates hergestellte Chips enthalten sind, das ist ja Blödsinn. Und Hagen, der sich schon deshalb nicht impfen lässt, weil er befürchtet, dass seine Gene verändert werden, ist überzeugt dass oben genannter Jüngling ein überaus guter Mensch ist, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Beide eint, dass sie glauben, was geschrieben steht und ihrer persönlichen Bezugswelt entspricht, verstärkt und multipliziert durch ihre Brüder und Schwestern im Geiste.

Ich fürchte, aus diesem Text spricht eine gewisse Bitterkeit. Ich bin bitter, das ist richtig. Es geht mir unsäglich auf die Nerven, wenn von „Hassrede“ (einer unjuristischen Bezeichnung für das englische Wort „Hatespeech“) gesprochen wird, wenn Gesetze mit glühend heißer Nadel gestrickt werden, um den Mob zu beruhigen. Ja, es ist vollkommen richtig, dass online gemobbt wird, dass einem schwindlig werden kann. Aber das ist tatsächlich ein gesellschaftliches Problem und ein Problem des Umgangs mit dem Medium.

Meinem Bildschirm kann ich alles sagen. Mein Bildschirm ist kein Mensch. Dass am anderen Ende der Leitung ein Mensch sitzen könnte, der mit dem, was ich in meiner Wut in die Textbox an meinem Bildschirm schreibe, nicht zurecht kommt, weiß ich nur in der Theorie. Und so ist ein sehr explosives Gegeneinander entstanden, eine Art Schlacht, in der jeder hingemetzelt wird, der irgendwie anders ist – und das, wo andernorts Diversity sonst großgeschrieben wird. Es ist sozusagen ein Krieg entstanden, in dem um die Hoheit über Meinung und Moral gekämpft wird.

Was da natürlich auch noch wirkt, ist der Gruppenzwang. Mich erinnert das tatsächlich an die Zeiten, da die Kirchen die Deutungshoheit über Moral und Wahrheit hatten. Die Hexenverfolgung habe ich ja schon genannt, da gab es aber noch einiges mehr. Empfohlen sei in diesem Zusammenhang die Lektüre des Buches „Eunuchen für das Himmelreich“ von Uta Ranke-Heinemann. Wir sollten immer im Hinterkopf haben, dass gewisse Verhaltensweisen seit Jahrhunderten, teils seit Jahrtausenden in unser Verständnis von menschlichem Zusammenleben eingebrannt sind und dass diese Verhaltensweisen nicht unbedingt gut für eine moderne, offene Gesellschaft sind.

So etwas verändert sich nicht über Nacht, auch nicht durch äußere Einflüsse oder Formalismen wie die Anpassung der Sprache. Wir laufen also immer Gefahr, auf uns selbst hereinzufallen und die sozialen Medien, die uns zur Verfügung stehen, machen es uns hier wirklich sehr leicht. Was kann uns da also helfen?

Für Medien und Berichterstatter wäre es doch mal quasi alternativlos, auf die guten, alten Regeln für Berichterstattung zurückzugreifen: Mindestens zwei, besser drei seriöse Quellen. Twitter, Facebook oder Instagram können nur dann als Quelle gelten, wenn sichergestellt ist, dass der Accountinhaber sich zitierfähig äußert. Wenn man also so ein Gerücht findet, sollte man nachsehen, ob es irgendwo verläßliche Bestätigungen gibt. Außerdem wäre es meiner Ansicht nach gut, Bericht zu erstatten, wenn es denn etwas zu berichten gibt. Was nützt dem Leser das Wissen, dass gegen die berühmte Schauspielerin angeblich wegen Kaufhausdiebstahls ermittelt wird? Könnten wir die Ermittlungen vielleicht mal abwarten und erst berichten, wenn ein Ergebnis vorliegt? Wenn die schöne, nicht ganz so berühmte Schauspielerin gegen ihren geschiedenen Mann, ebenfalls Schauspieler, den Vorwurf erhebt, er habe sie geschlagen und regelrecht eingesperrt, dann ist das erstmal genau das: Ein Vorwurf, der nicht bestätigt ist. Wenn das aber in irgendeiner „Herzenszeitung“ berichtet wird, dann wird dieser Vorwurf zum Narrativ, zu einer Art Wahrheit und – schlimmer noch – er kann so stehenbleiben. Das liegt in der Pressefreiheit, die natürlich erlaubt, dass Schauspielerin A den Schauspieler B einer nachgerade widerlichen Straftat beschuldigt. Ob das jetzt wirklich wahr ist, ist relativ egal, sie hat das ja gesagt. Also: Vielleicht erstmal mit dem  Skandalgeschrei zurückhalten und abwarten, was bei der Story so rumkommt. Kriminell wird es, wenn dann Zivilklagen für Strafverfahren ausgegeben werden und in der Folge Menschen Straftaten nachgesagt werden, für die sie nie vor Gericht standen und schon gar nicht verurteilt wurden.

Für die aktiven Social-Media-Teilnehmer wäre es wirklich wichtig, vor dem Sprung auf die skandalöse Aussage erst einmal die Finger von der Tastatur zu nehmen und sich zu fragen, ob dieser Kommentar, dieser Retweet, diese Weiterverbreitung wirklich notwendig ist. Eine weitere gute Frage, über die man gerne vorher nachdenken darf, ist die, warum man sich über genau diese Meldung genau so aufregt. Welches Gefühl spricht dieser Tweet, dieser Post eigentlich an? Warum habe ich das Bedürfnis, jetzt sofort mit den unflätigsten Beschimpfungen zu reagieren und, wenn es mir möglich ist, der sozialen Zerstörung dessen, von dem die Rede ist? Ich weiß, die Überprüfung der eigenen Reaktionen und des eigenen Denkens ist sehr aus der Mode gekommen. Vielleicht wäre hier ja auch mal wieder eine gute Aufgabe für die Schulen, die Kinder und Jugendlichen nicht nur helfen sollten, Wissen zu erwerben, sondern auch umsichtiges Denken zu lernen.

Letzlich läuft es darauf hinaus, dass wir alle vornehmlich zwei Aufgaben haben: Tief durchatmen und ignorieren lernen. Nur weil alle irgendetwas sagen, heißt das nicht, dass das auch stimmt. Nur weil zwei Wissenschaftler völlig unterschiedliche Standpunkte haben, heißt das nicht, dass der, dessen Standpunkt mir nicht passt, auch der ist, der falsch liegt. Und dann sollten wir uns vor allem eins vor Augen halten: Nur weil etwas schriftlich niedergelegt ist, ist es nicht unbedingt wahr, auch wenn wir von Kindesbeinen an gelernt haben, dass das, was wir lesen können, richtig ist. Geduld haben, abwarten und sich für die Meinungsbildung Zeit lassen ist wichtiger als „ERSTER!“ rufen zu können.

Bleibt cool und seid im Zweifelsfall dann einfach mal Letzter.

Beitragsbild: Peter H auf Pixabay

Eindrücke vom Abzug aus Afghanistan

Ich bin außenpolitisch überwiegend mit Ahnungslosigkeit geschlagen, das vorweg. Jetzt schreibe ich trotzdem auf, was meine Eindrücke von den Ereignissen in Afghanistan sind. Das tue ich aus zwei Gründen: Das Internet ist voll von Leuten, die mir helfen können, meine Sichtweise zu korrigieren, falls das nötig ist und ich fürchte, dass ich mit dem, was ich sehe, nicht allein bin. Es wäre auch zuviel verlangt vom „Durchschnittsmenschen“, über derart komplexe außenpolitische Vorgänge vollumfänglich Bescheid zu wissen. Also los, fangen wir mit der ersten Erinnerung an, die ich an die Berichterstattung von diesem Kriegsgeschehen habe:

Horst Köhler, damals Bundespräsident, sagte am Rande eines Truppenbesuchs folgende, sehr wahre Worte:

„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“

Das war der kommunikative Supergau, den ein Bundespräsident sich wirklich nicht leisten durfte und es hat Horst Köhler ja dann auch prompt den Job gekostet. Nichtsdestoweniger war die Einschätzung vollkommen korrekt. Keine Regierung dieser Welt wird sich an einem Krieg beteiligen, wenn es nicht um eigene Interessen geht. Das ist so, das war so – und das wird immer so sein. Hätten wir und unsere Aliierten für unseren Außenhandel und sonstigen Interessen freie Bahn gehabt, wäre die Herrschaft der Taliban nie in Gefahr gewesen. Jedenfalls nicht durch den Westen; der Konflikt hätte sich dort unter den Bürgerkriegsparteien abgespielt und wir hätten höchstens humanitäre Hilfe geschickt, niemals aber Militär, niemals Ausbilder.

So, das heißt für mich, dass dieser Einsatz folgende Ziele verfolgt haben muss:

  • Sicherstellung unserer wirtschaftlichen Präsenz in der Region
  • Sicherung von eventuell vorhandenen Rohstoffen in der Region
  • Ausbildung von Polizei und Armee zum Schutz unserer Interessen (Industrieanlagen, Lager, dgl.) in der Region

Dass man nebenher das Feigenblatt des humanitären Einsatzes noch vor die empfindlichen Stellen des Regierungskörpers halten konnte, war sehr praktisch. Dumm, dass dieser Elefant im Porzellanladen von einem Bundespräsidenten damals so dämlich war, tatsächlich zu sagen, was Fakt war, und das auch noch zitierfähig. So etwas tut man nicht!

Wie humanitär unser Interesse an Afghanistan tatsächlich ist, sieht man an dem Truppenabzug. Der US-amerikanische Präsident zieht die Truppen entgegen aller Warnungen im Rekordtempo ab und innerhalb kürzester Zeit kommen die Taliban zurück nach Afghanistan. Das bedeutet eine lebensbedrohliche Katastrophe für

  • alle Mitarbeiter, die mit uns zusammengearbeitet haben (Ortskräfte)
  • Frauen und Mädchen
  • alle, die der radikalen Koranauslegung der Taliban nicht folgen
  • alle, die in das orthodoxe Raster der Taliban nicht passen

.

Wir haben, das haben inzwischen sogar einige unserer Politiker laut gesagt, eine Verpflichtung gegenüber den Menschen in Afghanistan, vor allen Dingen gegenüber den sogenannten Ortskräften. Sie haben uns in unserem Tun und für das Erreichen unserer Ziele unterstützt, das macht sie zu Verrätern in den Augen der Taliban und auf Verrat steht der Tod. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin der Botschaft, des Konsulats, Übersetzer für die Soldaten der Bundeswehr, alle, die handwerkliche Arbeit geleistet haben, sind genau dieser Gefahr ausgesetzt und sollten sie hingerichtet werden, so klebt ihr Blut an unseren Händen. Und nein, ich sage bewußt nicht „an den Händen unserer Regierung“. Eine Mehrheit von uns hat diese Leute gewählt, wir sind hier in einer Demokratie, also sind wir alle mitverantwortlich. Man kann sich nicht aussuchen, wann „wir“ die Guten, die Medaillengewinner, die Weltmeister, die helfenden Hände, die freundlichen EU-Nachbarn, sind und wann „die“ (Regierung, nämlich) die üblen Spießgesellen sind, die unsere Soldaten in den Krieg schicken, die Letzter werden oder vierter, die die einen Hilfsbedürftigen den anderen Hilfsbedürftigen vorziehen. Ganz oder gar nicht, das ist auch Teil der Demokratie, auch wenn viele Menschen das nicht begreifen wollen.

Die Taliban erklären jetzt, sie wären ja ganz andere Taliban als die, die vor 20 Jahren regelmäßig in Rachsucht und Gewalttätigkeit über die Menschen in Afghanistan hergefallen sind. Sie sagen, sie würden alles vergessen und verzeihen. In Kabul ist es momentan auch wohl erstaunlich ruhig. Das, was im Inland los ist, bekommen wir nicht mit. Trotzdem scheinen die Menschen sich zu fürchten. Clarissa Ward, die momentan für CNN vor Ort in Kabul ist, hat Stephen Colbert ein sehr interessantes Interview gegeben. Sie sagt:

So viele Menschen fühlen sich zurückgelassen, sie haben das Gefühl, links liegengelassen zu werden und sie sind zutiefst verängstigt und voller Bitterkeit.

Auf die Frage, ob das Gefühl bestünde, dass die Taliban niemanden von diesen Leuten [die die USA-Truppen unterstützt haben] außer Landes lassen würden, also grundsätzlich alle einsperren würden, sagt sie:

Ich denke nicht, dass dieses Gefühl jetzt schon besteht. Ich meine, die Taliban haben definitiv gesagt, bitte geht nicht, denn sie wissen, dass aus der PR-Perspektive heraus diese Bilder von diesen Menschenmassen, die sich verzweifelt an die Flugzeuge der US-amerikanischen Luftwaffe klammern, um außer Landes zu kommen, sie nehmen wahr, dass das wirklich schlecht für sie aussieht und sie versuchen in diesem Mement zu signalisieren, dass sie eine andere Art von Taliban sind, dass sie regieren können, dass sie diplomatischer sind und deshalb wollen sie offensichtlich keine Szenen auf dem Boden, die diesem Narrativ direkt entgegenstehen. Ich habe noch nicht das Gefühl, dass sie Menschen direkt am verlassen des Landes hindern wollen, aber das ist offensichtlich die große Angst.

Die andere große Angst ist, dass sobald die Amerikaner zusammengepackt und die Zugbrücke hochgezogen haben, wie werden die Afghanen, die mit den Vereinigten Staaten zusammengearbeitet haben, wie wickeln sie den Papierkram ab, reichen dieses Dokument ein, mit wem können sie sprechen? Diese Leute dachten, sie hätten mehr Zeit, um sich auf diesen Moment vorzubereiten, vielleicht Monate. Es waren Stunden.

Die Antwort auf die nächste Frage ist das, was mich auch bewegt. Stephen Colbert fragte, was die Menschen in Afghanistan, die mit den Amerikanern und der amerikanischen Präsenz gelebt haben, über den amerikanischen Rückzug und die Amerikaner jetzt denken. Clarissa Ward sagte dazu:

Wissen Sie, ich denke das ist ein wirklich wichtiger Punkt für die Afghanen, mit denen ich gesprochen habe; sie werfen Amerika nicht vor, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Sie haben von Amerika nicht erwartet, weiter jahrzehntelang den Krieg eines anderen Landes zu führen und sie verstehen vollkommen, dass das afghanische Volk die Verantwortung für sein eigenes Land übernehmen muss. Aber wo die Bitterkeit, die Traurigkeit, wo die Angst herkommt, ist die Art, in der dieser Rückzug ausgeführt wurde, das Chaos darin, die Eile, die Tatsache, dass den Taliban während dieser Verhandlungen nicht mehr Zugeständnisse abgerungen wurden, daher kommt der Kummer, daher kommt die Bitterkeit und daher kommt die Wut.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gefühle gegenüber den Deutschen wesentlich anders sind. Und ich kann das gut verstehen. Was das für die Zukunft der Region heißen mag, für die weltweite Sicherheitsstruktur, ist wohl wirklich kaum absehbar. Wie viele Afghanen werden sich wohl schon aus Enttäuschung und Wut gegen den Westen, gegen die NATO wenden?

Ein Thema, das mich besonders besorgt, ist die Frage, was wohl aus den Frauen und Mädchen wird. Die Taliban sind Muslime, ja. Da gibt es, ebenso wie bei den Christen, Abstufungen, Schattierungen. Die Taliban gehören wohl zu den konservativsten, othodoxesten Muslimen überhaupt. Frauen haben es da schwer, wenn sie sich nicht damit abfinden möchten, wie Dinge behandelt zu werden. Schon jetzt kursieren Bilder von Taliban, die sich unter den Mädchen, die sie vorfinden, eine Frau aussuchen und einfach mitnehmen. Ehefrauen sind in diesem Zusammenhang eher so etwas wie Sklavinnen, die für die Zufriedenheit des Mannes zuständig sind. Mädchen zur Schule zu schicken gilt als sündhaft. Clarissa Ward erwähnte, dass man auf den Straßen praktisch keine Frauen mehr sieht, dass sie aus Angst vor Repressalien zuhause bleiben. Nach 20 Jahren, in denen ja auch Kinder geboren wurden und in einem gänzlich anderen Klima heranwuchsen, scheint das erstaunlich. Den Taliban scheint dort also ein Ruf vorauszueilen, der Angst und Schrecken verbreitet, auch wenn sie jetzt sagen, sie wären anders. Moderner? Besser? Sie werden das beweisen müssen.

Der US-amerikanische Präsident Biden sagte, die Truppen seien nach Afghanistan geschickt worden, um weitere Anschläge wie den vom 11. September 2001 zu verhindern und dieses Ziel sei nun erreicht. Wie weit ist dieses Ziel erreicht, wenn genau die Menschen, die für diesen und viele weitere Anschläge verantwortlich gemacht wurden, jetzt wieder das Land beherrschen? Können wir sicher sein, dass wir keine Renaissance des radikalen Islamismus erleben? Ich denke, dass wir das nicht sein können, vor allem, wenn man bedenkt, wie rasend schnell die Taliban nach dem Truppenabzug das Land wieder in Besitz genommen haben.

Bei ihrem Vormarsch haben die Taliban auch Biometrie-Geräte und -Datenbanken erbeutet, die durchaus auch darauf abgespeicherte Daten enthalten. Wir dürfen uns nicht der Vorstellung hingeben, dass diese Menschen, nur, weil sie sich fransige Bärte wachsen lassen und Kleidung tragen, die wir in längst vergangenen Zeiten verorten, nicht mit moderner Technik umgehen können. Sie haben militärisches Gerät, das das afghanische Militär von den USA bekommen hat, sie haben Piloten, sie haben nicht nur die Technik, sie haben die Bildung, um mit der Technik umzugehen.

Nein, ich denke nicht, dass dass das afghanische Militär nicht mit entsprechenden Geräten hätte ausgerüstet werden dürfen und ich denke auch, dass die Soldaten mit dem Gerät umgehen können. Aber um es dann auch einzusetzen, brauchen Soldaten nicht nur Wissen und Können, sondern auch den entsprechenden Kampfgeist. Ich fürchte, den haben wir ihnen durch diesen völlig überstürzten Abzug genommen.

Ich hoffe sehr, dass uns das nicht auf die Füße fällt. Und noch mehr hoffe ich, dass das den Afghanen und den Menschen in ihrer Region nicht auf lange Sicht schlimmen Schaden zufügt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Schwarz-Weiss-Denken

Vorgestern stieß ich auf eine große Ankündigung: Der neue Superman wird von einem schwarzen Schauspieler dargestellt. Alle Welt jubelt und feiert – für mich fühlt sich das aber unangenehm an.

Hurra, ein schwarzer Superman! Endlich! Sorry, ich kann es nicht verstehen. Superman war seit seiner Erfindung weiß. Er verhält sich wie ein Weißer, er bewegt sich in einem überwiegend weißen Kulturkreis, seine Kusine ist weiß und er wurde von Weißen ersonnen. Sicher, das kann man strukturrassistisch nennen, das passt ja auch zu der Zeit, in der Jerry Siegel und Joe Shuster den Superman geschaffen haben. Das erklärt auch, warum Frauen lange Zeit die hilflosen, schwachen Wesen darstellen mussten, die in Schwierigkeiten gerieten und ihren Superretter innig angestrahlt haben, sobald die Gefahr gebannt war. Und es ist vollkommen richtig, dass Schwarze, Asiaten, und Angehörige indigener Völker gerade in den spannenden Superheldengeschichten so unterrepräsentiert sind, dass auch dort Identifikationsfiguren dringend notwendig sind.

Dasselbe gilt für Frauen in der Unterhaltungsbranche, auch wenn es da langsam besser wird. Gerade im Moment führt uns die Serie „WandaVision“ auf Disney+ vor Augen, wie viel weiter wir bereits gekommen sind. Die Serie führt den geneigten Zuschauer durch die Sitcom-Kultur von den 50er Jahren bis heute, was ausgesprochen interessant anzusehen ist. Trotzdem wurden auch bei der Darstellung „Frau-statt-Mann“ wirklich Fehler gemacht. Beispielsweise die „Ghostbusters“ von 2016, für den die Hauptrollen mit Frauen besetzt wurden – und die leicht dümmliche Sekretärin ein Mann war.

Ich denke nicht, dass man so einfach aus Weiß schwarz und aus Mann Frau machen kann. Das heißt, natürlich kann man – man wird aber dem Anliegen nicht gerecht. Einer der gelungensten Superheldenfilme der letzten Jahre war „Black Panther“. Dieser Film basiert aber auf einem schwarzen Superhelden innerhalb einer schwarzen Kultur. Ich denke, dass es durchaus möglich ist, einen schwarzen (Super-)Helden innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft überzeugend und vorbildhaft darzustellen. Luke Cage ist ein gutes Beispiel dafür, ebenso Black Lightning. Da muss dann aber auch ein bisschen mehr Kreativität investiert werden als einfach nur ein simples aus-weiß-mach-schwarz. Mich ärgert das und ich finde, dass die Unterhaltungsindustrie es sich hier wirklich zu einfach macht. Nur, weil eine Marke (hier: Superman) eingeführt ist, heißt das nicht, dass man sie dafür nutzen kann, gesellschaftliches Umdenken zu erzeugen. Ich fürchte sogar, dass das danebengehen wird.

Dasselbe gilt für die Frauen. Wirklich interessante Frauenrollen sind rar. Gute Filme, die Frauen realistisch darstellen, kann man mit der Lupe suchen. Entweder es gibt das Weibchen-Schema, das die rehäugige Nicht-Heldin, die ohne männliche Hilfe nicht auskommt, herausstellt oder es ist die Mannweib-Heldin, die niemanden braucht und und auf die Kerle in ihrem Leben dankend verzichten kann. Alles dazwischen ist relativ selten (aber es gibt Filme, die Zwischentöne anschlagen, zum Beispiel den Film Courage under Fire [deutsch: Mut zur Wahrheit] aus dem Jahr 1996). Interessante Frauenrollen sollten meiner Ansicht nach Frauen zeigen, die sich wie Frauen verhalten – und da gibt es hier und da Unterschiede zum männlichen Verhalten, ohne dass man da auf das Klischee der Jungfrau in Nöten zurückgreifen müsste.

Das wünsche ich mir von Filmemachern: Dass sie tatsächlich in die Welt derer eintauchen, die sie porträtieren wollen, die kulturellen Hintergründe zeigen, aufzeigen, wie wir unterschiedlich sein können, ohne dass wir voneinander getrennt sein müssen. Sie sollen Licht werfen auf das, was im Schatten ist, Stärken und Schwächen zeigen. Schwarz ist nicht weiß, weiblich ist nicht männlich, Plus ist nicht minus. Wenn wir wollen, dass wir gesellschaftlich zusammenwachsen, müssen Unterschiede so selbstverständlich werden, dass sie keine Rolle mehr spielen und wir müssen wahrnehmen, dass das Gleiche eben nicht dasselbe ist. Das ist weder Rassismus noch ist es Sexismus – und es ist schon mal überhaupt keine Gleichmacherei. Wer Vielfalt will, muss meiner Ansicht nach die Vielfalt leben lernen.

Unsichere Zukunft

Plötzlich und unerwartet steht unser Leben auf dem Kopf. Ein Virus, viel zu winzig, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen, bringt unseren Alltag zum Erliegen. Menschen bleiben zuhause. Wohl dem, der Familie hat, da ist wenigstens noch Ansprache möglich, solange es ausreichend Rückzugsorte gibt. Singles wie ich sitzen allein zuhause und telefonieren oder sehen fern. Nie habe ich Netflix so sehr zu schätzen gewußt wie derzeit.

Wenn aber zwischendurch einmal Pause ist, wenn ich innehalte, nicht mehr versuche, mich in eine andere Welt zu begeben, dann überfällt mich ein ungutes Gefühl. Das liegt daran, dass ich mich informiere. Sicherlich sind Hauptquellen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die Onlineausgaben von Tageszeitungen (gelobt sei an dieser Stelle Twitter, die alte Linkschleuder, die mir viel Recherchearbeit abnimmt). Dazu kommen Dinge, die einfach nicht ausbleiben können: Die Kommentare meiner Familie auf WhatsApp, zum Beispiel, wo die Linkschleuder eben nicht meine wohlgepflegte, handverlesene Twitter-Timeline ist, sondern oft genug die obskureren Ecken in Facebook. Die „Diskussion“ der Auswirkungen des Virus und der Maßnahmen, die getroffen werden müssen, wird auch dadurch nicht leichter, dass Ärzte und Wissenschaftler (richtig, da gibt es einen Unterschied) teils ebenfalls sehr unterschiedliche Ansichten haben.

So sitzen wir allein (oder zu zweit, dritt, viert…) in unseren Wohnungen, wo wir zu viel Zeit zum Denken haben und zu viel Zeit zum Angst haben.  Das Virus hat uns fest im Griff, obwohl die meisten von uns gar nicht krank sind. Aber das ist eben das Tückische: Niemand kann genau sagen, wen es erwischen wird. Sicher sind Menschen mit einem von Diabetes oder Immunsuppressiva* geschwächten Immunsystem eher bedroht. Sicher sterben auch viele alte Patienten, deren Immunsystem sowieso nicht mehr sehr gut ist, teils mit, teils an Covid-19. Sicher kann man davon ausgehen, dass das Virus relativ jungen Menschen, die gesund sind, nicht viel anhaben kann – meistens. Menschen, die da Ausnahmefälle sind, ohne es zu wissen, hilft das wenig.

Damit sind wir so ungefähr bei der Quintessenz dessen was wir wissen: Das Virus kann gefährlich sein, die Erkrankung kann tödlich enden, es kann grundsätzlich jeden erwischen, auch wenn alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen gefährdeter sind, ein Mundschutz kann von Nutzen sein, die Maßnahmen, die unsere Politiker beschlossen haben, können dazu beitragen, dass wir unser Gesundheitsystem nicht überlasten und damit vermeiden, mehr Menschen zu gefährden als nötig. Kann. Muss aber nicht.

Es ist sehr viel Möglichkeit in den Informationen, die wir bekommen und sehr wenig Gewissheit. Jetzt, wo die Zahlen so schüchtern und vorsichtig besser werden wie die Blattknospen an den Bäumen erscheinen und größer werden, kommen die ersten Rufe nach Lockerung der Maßnahmen. Mehr Geschäfte sollen öffnen dürfen, vor allen Dingen. Mehr geöffnete Geschäfte bedeutet mehr Stadtbummler und das bedeutet, dass Abstände nicht mehr eingehalten werden könnten. So gerne ich mir vielleicht eine neue Jeans kaufen möchte – noch ist mir das Risiko zu hoch.

Durch die Maßnahmen ist auch die Versammlungsfreiheit gefährdet. In meiner wohlsortierten Twitter-Timeline sind die Menschen deswegen grundsätzlich unerfreut, denn sie würden gern demonstrieren, um ihre Freiheit zu schützen, denn die Maßnahmen, um Daten zu erheben, damit man das Virus vorhersagbarer machen können, sind vielerorts in gar keiner Weise mit geltenden Datenschutzbestimmungen zu vereinbaren. Die Befürchtung ist, dass hier Überwachungsmechanismen eingeführt werden, die später kaum noch oder gar nicht zurückgenommen werden können. Diese Befürchtung teile nicht nur ich, sondern auch meine Geschwister, die deutlich konservativer eingestellt sind als ich. Die Frage im Hinterkopf vieler Menschen hierzulande lautet:

Bekommen wir einen Überwachungsstaat durch die virale Hintertür?

Ich kann das nicht beantworten – vermutlich kann das niemand. Unseren derzeit mit den entsprechenden Maßnahmen befassten Politikern traue ich nicht zu, diese Situation, die die Gesellschaft sehr verwundbar macht, für diese Zwecke auszunutzen. Das Problem ist, dass die meisten Beschlüsse sehr schnell gefasst worden sind und die dazugehörigen (rechtlich bindenden) Texte entsprechend mit einer sehr heißen Nadel gestrickt wurden. Was, wenn so Löcher ins Werk gebrannt werden, die für nachfolgende „Politiker“ ein willkommener Türöffner sind? So unwahrscheinlich wie noch vor zehn Jahren ist das heute nicht mehr – und schon damals haben Menschen, die die Informationstechnologie gut kennen, vor den Gefahren des Datenmissbrauchs gewarnt. Heute ist diese Gefahr deutlich größer.

Was soll man jetzt also von alledem halten? Ist dieses Virus gefährlich für uns alle oder nur einige wenige? Ist das Virus selbst tödlich oder muss eine weitere Erkrankung hinzukommen? Sind die Maßnahmen, die ergriffen wurden, ausreichend, nicht ausreichend, übertrieben? Sind „Corona-App“ und ihre Geschwister zu datenhungrig? Entsteht aus der Furcht vor dem Virus endgültig der gläserne Bürger?

Ich weiß es nicht und vermutlich wissen das noch nicht einmal die Fachleute und Experten. Im Moment können wir nur hoffen, dass das alles gut geht. Ich halte uns die Daumen.

*Medikamente zur Unterdrückung des Immundsystems, die beispielsweise nach einer Organtransplantation genommen werden müssen, um Abstoßungsreaktionen zu vermeiden