Es ist so weit: Heute ist Welt-Diabetes-Tag. Ich habe Diabetes mellitus Typ 2 und bin ziemlich allein damit, insofern ist das eine gute Gelegenheit, ein paar Gedanken zum Thema niederzuschreiben.
Meine verstorbenen Verwandten hatten nicht viel zu vererben; Plattfüße, schlechte Zähne, krumme Wirbelsäule, Gicht, Diabetes. Nun, ich entstamme einer großzügigen Familie und habe in der Folge alles geerbt. Es gäbe theoretisch Schlimmeres, weniger gut Handhabbares. Heute reden wir mal über den Diabetes. Der ist einer meiner ältesten Bekannten, denn meine Großmutter mütterlicherseits hatte ihn. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört meine Oma, mit der ich abends vor dem Fernseher saß, während sie das Insulin in ihrem Spritzapparat (eine Art wiederverwendbarer Pen) aufzog und sich das Insulin in den Oberschenkel spritzte, der mit kleinen blauen Flecken vom Spritzen übersät war. Und ich weiß auch noch, wie sehr ich damals schon genau das nicht wollte.
Diabetes hatte lange Zeit den Ruf, nicht nur vermeidbar zu sein, sondern eine Erkrankung der Disziplinlosigkeit. In den Köpfen sehr vieler Menschen ist der Diabetiker jemand, der sich nicht beherrschen kann, der zu viel und falsch isst, der sozusagen selbst schuld ist. Wir Diabetiker brauchen grundsätzlich keine anderen Leute, um uns dahingehend Vorwürfe zu machen, das können wir problemlos selbst, denn Diabetiker haben ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko, an depressiven Störungen zu erkranken. Sind das nicht großartige Aussichten? Ja, fand ich auch.
Bei mir kam die Depression zuerst, das lag an sehr einschneidenden Ereignissen im Laufe meines Lebens. Der Diabetes kam dann so ungefähr 2015 dazu. Und, um ehrlich zu sein: Ich war beleidigt, sauer, traurig, hoffnungslos und sah mich mit blauen Flecken auf den Oberschenkeln vor dem Fernseher sitzen wie meine Oma. Ich bin heute noch nicht wirklich im Frieden mit dieser Stoffwechselerkrankung, aber die Selbstvorwürfe habe ich größtenteils überwunden.
Wenn ein Diabetes festgestellt wird, kommt hier in Deutschland eine Maschinerie in Gang: Die Krankenkasse macht Angebote, der behandelnde Arzt verordnet Medikamente, man bekommt Broschüren, ein Messgerät und Hilfen, um mit der Erkrankung umgehen zu lernen. Im Internet gibt es tonnenweise Information, es gibt Kochbücher, die zur Hälfte aus Information und zur anderen Hälfte aus Rezepten bestehen. Diabetes kommt um zu bleiben, der geht nicht weg. Mich hat das alles anfangs einigermaßen überwältigt, ich wusste gar nicht, worauf ich mich zuerst konzentrieren sollte.
Mein erster Rat an den geneigten Leser: Lassen Sie vorerst das Internet außen vor, vor allem wenn Sie mit dem Diabetes allein sind. Sicher, die Deutsche Diabetes Gesellschaft, die Deutsche Diabetes Hilfe, die Krankenkassen und auch das Bundesgesundheitsministerium bieten sehr gutes Informationsmaterial an, das macht am Anfang aber nur wuschig. Was für Sie jetzt, ganz am Anfang wichtig ist, ist ihr persönlicher Weg. Wenn Ihr Arzt oder Ihre Krankenkasse Ihnen eine Diabetikerschulung anbietet, dann nehmen Sie vorneweg erst einmal die in Anspruch.
Diabetikerschulungen haben mehrere Vorteile: Sie bekommen Information nicht nur darüber, was das jetzt eigentlich für eine Krankheit ist, die Sie da haben, sie lernen auch andere Leute kennen, die Diabetes haben und eventuell ähnlich enttäuscht von ihrem Körper sind wie Sie. Es ist einfach wichtig, mit einer chronischen Erkrankung nicht allein zu sein und sich bewußt zu machen, dass Sie an Ihrem Diabetes eben nicht selbst schuld sind. Zugegeben, ganz unvermeidlich war er nicht, aber gerade beim Typ 2 spielt das Erbe der Vorfahren doch eine signifikante Rolle.
Was dann als nächstes schwierig wird, vor allem für Singles, ist die Umstellung der Ernährung. Es gibt ein paar Tricks und Kniffe, die man relativ einfach in den Alltag einbauen kann und es gibt einiges, was gewöhungsbedürftig ist. Ich selbst habe insofern Glück, als ich Süßigkeiten nie wirklich gebraucht habe. Sicher, Weihnachten kommt auf uns zu und ich bin selbstverständlich ein großer Fan von Lebkuchen und Schokoladennikoläusen. Ostern ist auch ein kritischer Zeitpunkt, vor allem wegen der Eierlikör-Eier. Aber aufs Ganze gesehen komme ich ohne süßes Zeug aus, kann mittlerweile sogar meinen Kaffee ohne Zucker genießen, wenn ich genug Milch dazu bekommen kann und habe mir Zucker größtenteils abgewöhnt.
Es geht auch nicht darum, vollständig auf alles zu verzichten, was bisher das Leben kulinarisch lebenswert gemacht hat. Es geht um Reduktion und um Umstellung. Was mir die meisten Probleme gemacht hat, war die Umstellung auf Vollkornnudeln – da gab es zu Beginn meines Diabetes kaum preiswerte Produkte, die nicht nach einer Kombination aus Pappe und Schmirgelpapier schmeckten. Das hat sich inzwischen gottseidank geändert. Ansonsten war ich noch nie ein großer Fan von viel Fleisch, Wurst und Fett, insofern war das nicht wirklich problematisch. Mein Tipp an Sie: Wenn Sie einen Tiefkühlschrank haben, besorgen Sie Tiefkühlgemüse, von dem Sie wissen, dass Sie es mögen und horten Sie es, so dass Sie spontan kochen können.
Bücher, vor allem Kochbücher können helfen – müssen aber nicht. Ich rate zum Besuch der örtlichen Bibliothek, die üblicherweise einiges an Lektüre zum Thema vorrätig hat. Lesen Sie dort, bevor Sie sich zum Kauf entschließen. (Man kann das selbstverständlich auch in der Buchhandlung machen, aber nach einer Weile gucken die Leute dort etwas komisch, das kann zu unbeabsichtigten Spontankäufen führen, die Sie später bereuen.) Nutzen Sie gerade die Kochbücher vor allem dafür, die Ernährung während Ihres Arbeitstages diabetesgerecht zu gestalten. Wenn eine Kantine an Ihrem Arbeitsplatz vorhanden sein sollte, prüfen Sie diese auf Diabetikertauglichkeit (ich sage es Ihnen gleich: Sie werden enttäuscht sein). Wenn die Kantine untauglich ist, müssen Sie Ihr Mittagessen selbst mitbringen und bei der Zubereitung transportablen Essens sind so manche Kochbücher wirklich hilfreich.
Das, was am Schwierigsten zu bekommen ist, ist gleichzeitig das Wichtigste: Bewegung. Wenn Sie allein leben und den ganzen Tag arbeiten, kann es gut sein, dass Sie abends einfach keine Lust mehr haben, sich in Bewegung zu setzen. Das ist aber in der Tat der wichtigste Aspekt, wenn Sie Dominanz über den Diabetes erlangen möchten. Ich habe es mit einer Mitgliedschaft in einem Fitness-Studio versucht (völlig erfolglos), mit dem Erwerb eines handlichen, kleinen Steppers, mit dem ich vor dem Fernseher immer mal ein Weilchen üben kann (ich muss ihn demnächst wieder einmal entstauben), mit dem Plan, mindestens dreimal pro Woche einen etwa halbstündigen Spaziergang zu machen (mein innerer Schweinehund lacht diabolisch) – es ist nicht einfach. Setzen Sie sich erreichbare Ziele. Laufen Sie lieber zehn Minuten um dem Block als eine halbe Stunde durch den Wald, den Sie nur mit dem Bus erreichen können. Wichtig ist es zunächst, sich wieder an Bewegung zu gewöhnen, wenn Sie, wie ich, der Bewegung vollständig entwöhnt sind. Und tun Sie Dinge, die Ihnen Spaß machen, zumindest halbwegs.
Wenn Sie mit Ihrem Diabetes und dann eventuell noch einer Depression allein sind, brauchen Sie Verbündete und Information. Es ist nicht wirklich einfach beides in der verläßlichen Variante zu finden, aber mit ein wenig Hartnäckigkeit finden Sie, was Sie brauchen. Haben Sie Geduld mit sich, machen Sie sich keine Vorwürfe, leben Sie nach vorn, lassen Sie sich die Laune nicht vermiesen von einer Erkrankung, die droht, Ihr Leben zu beherrschen. Und gönnen Sie sich hier und da etwas Gutes, das ist wichtiger als endlose Selbstdisziplin und hilft beim Durchhalten.
Ich verlinke Ihnen hier die Deutsche Diabetes-Gesellschaft – wenn Sie Neudiabetiker sind, warten Sie aber wirklich besser mit der Lektüre bis zum Beginn einer Diabetikerschulung, damit Sie Leute haben, mit denen Sie über das dort Gelesene sprechen können.