Moralinsaurer Neopuritanismus

Langsam, aber sicher reicht es mir mit unseren Medien und der sogenannten Verdachtsberichterstattung. Das ist die Berichterstattung, die Anschuldigungen, Anwürfe, moralische Verwerflichkeiten und dergleichen mit seitenweiser Hingabe in aller epischen Breite, deren die sogenannten Journalisten fähig sind, vornehmlich auf unsere Bildschirme pflastert. Gerne verbunden, mit der Forderung, dem Übeltäter die Lebensgrundlage zu entziehen und ihn weitestgehend gesellschaftlich zu ächten. Oh, hehres Heldentum des moralinsauren Neopuritanismus!

Okay, lassen Sie mich eine Geschichte erzählen von einem Typen, der nun wirklich gar kein Sympathieträger ist. Dem Mann war kein Witz zu schlüpfrig, keine Pointe zu dreckig. Er hat viel über Sex geredet und als Standup-Comedian auch viel darüber „gescherzt“. Russell Brand. Ich persönlich finde den Kerl wirklich widerlich, aber nun, es gab einen Markt und ich bin nicht verpflichtet, mir das anzutun, was der Mann so von sich gibt.

Und dann kamen neulich die Daily Mail, BBC und Channel 4 damit um die Ecke, dass er ein sexsüchtiger Vergewaltiger sei. Und ja, wer seinem Werk hier und da über den Weg gelaufen ist, der wird sagen: Das passt zu ihm. So weit, so unklar, denn: Was wir bis heute, 23.09.2023, wissen, ist, dass Frauen sich mit ihren Geschichten an die Presse gewandt haben und die Presse diese Geschichten auch aufgegriffen hat. Sicherlich haben die Journalisten das, was sie da berichten, überprüft. Diese Prüfung ist aber himmelweit von einer gerichtsfesten Beweislage entfernt und deswegen nennt man das, was die Herrschaften da berichten auch

VERDACHTSBERICHTERSTATTUNG.

Das heißt, es steht ein Verdacht im Raum und der muss erstmal bewiesen werden. Lächeln und atmen, meine Damen und Herren. Denken Sie gerne, dass das zu ihm passt, kein Problem. Wenn es nur das wäre, dann bräuchte ich den Schrieb hier nicht zu schreiben.

YouTube, wo Russell Brand einen Kanal hat, hat reagiert, indem sie ihm die Möglichkeit entzogen haben, mit seinem Content Geld zu verdienen. Auf eine VERDACHTSBERICHTERSTATTUNG hin. Verdacht. Bisher kein gerichtsfester Beweis vorhanden.

Es gibt wohl, wenn ich das richtig überblicke, polizeiliche Ermittlungen. Das finde ich persönlich gut, denn dann können wir sehen, was da jetzt so alles genau dran ist. Wenn es ein Gerichtsverfahren gibt, wird es spätestens im Anschluß auch Akten geben, denen zu entnehmen ist, inwieweit der Verdacht sich bestätigt hat. Und wenn der Verdacht sich bestätigt, dann wird der Mann verknackt, das können Sie mir glauben, denn dann sind das üble Straftaten. Aber so weit sind wir noch lange nicht.

Das interessiert YouTube jetzt nicht, dort hat man Angst, dass der schlechte Ruf des Verdächtigen auf die Plattform zurückfällt und also bleiben die Videos zwar öffentlich (was dafür spricht, dass sie nicht gegen die YoutTube-Regeln verstoßen), aber sie bringen kein Geld mehr (und werden folglich auch nicht mehr so oft angezeigt, was sie auf längere Sicht in Vergessenheit geraten lässt). Nachdem Russell Brand inzwischen wohl hauptsächlich von seinen Aktivitäten in sozialen Medien lebt (YouTube, TikTok, Rumble, Instagram, dergleichen), ist das in der Tat mit einer Bedrohung seiner Lebensgrundlage verbunden. Auf einen Verdacht hin!

In Deutschland scheint da nicht so sehr viel anzukommen – um auf Twitter etwas darüber zu finden, musste ich gezielt nach ihm suchen, die Hashtags sind nicht im Trend. Unsere „Qualitätsmedien“ berichten selbstverständlich, allerdings muss man da auch auf die Suche nach dem Namen gehen, meine Lieblings-Klatschsendung im Fernsehen sagt nichts dazu. Aber Russell Brand ist in Deutschland wohl auch weniger bekannt, da ist er nicht so unglaublich interessant.

Was mich aber anficht: Kein Medium, das ich bisher gesehen habe, unterscheidet zwischen Recht, Gesetz und Moral – und das nicht erst seit diesem Fall. Es gibt sogar in den Tiefen des Internet ein Buch, das eine Anleitung zur sozialen Zerstörung von Männern enthält. Inhalt in Kürze: Formuliere erst den Verdacht, sorge für Berichterstattung in den Medien und hol dann die Behörden ins Boot. Und gerade wenn dieser Verdacht mit Sex und unmoralischem bis kriminellem Verhalten bezüglich Sex zu tun hat, funktioniert das ganz fabelhaft. Greg Ellis, ebenfalls ein britischer Schauspieler, hat seine Erlebnisse mit diesem Vorgehen in einem Buch zusammengefasst und veröffentlicht (The Respondent) und der Prozess, den Johnny Depp gegen seine geschiedene Frau geführt hat, ist vielen auch noch in Erinnerung. Letzterer Fall ist ein Lehrbeispiel für das oben angeführte Vorgehen.

Die Menschen, die beschuldigt werden, ohne sich schuldig gemacht zu haben (oder in einem wesentlich geringeren Ausmaß als berichtet), werden für den Rest ihres Lebens mit den Vorwürfen zu kämpfen haben – auch das sehen wir gerade am Beispiel Johnny Depp, der nun mit „Jeanne du Barry“ einen neuen Film in die Kinos gebracht hatte, in Frankreich auf französisch gedreht und in Cannes vorgestellt. Kein Bericht über den Film, der nicht mindestens in Kürze den Zivilprozess gegen die geschiedene Gattin erwähnt hätte, wenige, die darauf verzichtet haben, noch einmal moralische Zweifel zu äußern.

Die sozialen Medien feiern große Erfolge, das Befinden der Betroffenen wird dem Anzeigenverkauf untergeordnet. Letztlich handelt es sich in den meisten Fällen um das, was so schön „Clickbait“ (Klickköder) genannt wird. Sex sells und moralische Überlegenheit erst recht. Ja, es tut gut, sich wertvoller zu fühlen als ein überbezahlter Schauspieler, ein bekannter Moderator oder einfach ein Mann, der auf andere Weise zu Ruhm, Ehre und Bekanntheit gekommen ist. Und wenn man das fühlen kann, ohne dass es eine Anzeige, eine formelle Anklage oder gar ein strafrechtliches Urteil gibt, dann macht man das eben, auch (und gerade), wenn man selbst hier und da mal Dinge getan hat, die moralisch nicht so ganz einwandfrei sind. Hauptsache, man ist besser als dieser reiche, berühmte Mensch, Hauptsache, man kann fordern, dass der soziale Kopf rollt und der Unmensch nie wieder mit seinem öffentlichen Auftreten Geld verdient!

Damit nicht genug. Das britischen Parlament hat ein Komitee für Kultur, Medien und Sport und da gibt’s auch eine Vorsitzende, Dame Caroline Dinenage (der Titel ist übrigens in etwa das Äquivalent zur deutschen Freifrau, wenn ich mein Wörterbuch richtig deute). Und diese Dame (Wortspiel beabsichtigt) hat nun Briefe geschrieben, und zwar unter anderem an BBC, Channel 4, Sun und TikTok.

Die Briefe sind auf der offiziellen Website des Parlaments in einer Meldung vom 19. September zu finden. Es gab dann offensichtlich auch noch Briefe vom 20. September, die ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben, zum Beispiel an Rumble, die in den sozialen Medien zu finden sind, nicht aber auf der Website des Parlaments.

Inhalt, kurz gesagt: Die Ausschussvorsitzende hofft sehr, dass der jeweils Angeschriebene dafür sorgt, dass Russell Brand keinerlei Einnahmen mehr aus seinen Internetaktivitäten erzielen kann und man sich freundlicherweise an der Ächtung des Herrn in sozialen Netzwerken beteiligen möge.

Das eröffnet einen neuen Aspekt, vor allem bezüglich des Einspannens von Institutionen für eigene Zwecke. Wenn man einen parlamentarischen Ausschuss vor den Verdachtskarren spannen kann, hat das wirklich eine ganz neue Qualität und das ist keine gute. Wenn Behörden Einfluß auf Unternehmen auszuüben versuchen, um einzelne Menschen in ihrer (Berufs-)Tätigkeit einzuschränken und ihnen vielleicht sogar die Lebensgrundlage zu entziehen, dann sind wir an einem Punkt, der mir persönlich viel zu nah am Totalitarismus ist. Das darf meiner Ansicht nach nicht passieren, noch nicht einmal, wenn es eine strafrechtliche Verurteilung gibt. Das darf einfach nicht passieren, egal, wie man zu den Anwürfen, dem Verdacht oder der nachgewiesenen Tat steht.

Mein persönliches Vorgehen, wenn ich solche Berichterstattung (oder Beiträge in sozialen Medien) sehe:

1.) Gibt es polizeiliche/staatsanwaltliche Ermittlungen?
2.) Wird die Person, die den Vorwurf erhebt, namentlich genannt? Wird ein Bild veröffentlicht?
3.) Wenn die Antwort auf den zweiten Punkt „ja“ lautet: Wurde Strafanzeige erstattet?
4.) Wenn nein: Womit wurde der Verzicht auf eine Strafanzeige begründet?
5.) Wurden schwere Verletzungen angegeben? (Knochenbrüche, offene Wunden, Prellungen, die sichtbar gewesen sein müssten)
6.) Wenn ja: Gibt es medizinische Dokumentation?

Das klingt alles recht kalt, sicher. Wenn man sich aber auf diese Art durch die entsprechenden Artikel hangelt, erfasst man recht schnell, ob die Grundlage der Berichterstattung solide oder doch eher brüchig ist.

Beispiel: Ein Faustschlag ins Gesicht mit einer Hand, an deren Fingern große Ringe stecken, hinterläßt Spuren, die man nicht ohne ärztliche Hilfe einfach so abheilen lassen kann. Die davon verursachten Schwellungen kann man nicht durch Kühlen beseitigen und überschminken kann man solche Verletzungen nur eingeschränkt. Und wenn man Schauspielerin von Beruf ist und einen Nasenbeinbruch erleidet, dann wird man sich schnellstmöglich beim nächstgelegenen Facharzt melden. Dann gibt es medizinische Unterlagen, die die Verletzungen dokumentieren, egal, welche Story man dem Arzt erzählt hat. Wenn man so etwas aber einem Journalisten erzählt, der das für bare Münze nimmt und prompt berichtet, ohne nach den Behandlungsunterlagen zu fragen, dann stimmt da halt etwas nicht und als Leser sollte man durchaus misstrauisch werden und mit der Verurteilung des Verdächtigen sehr zurückhaltend sein. Das ist jedenfalls meine Meinung.

Und deswegen schreibe ich diesen Artikel: Damit Sie, lieber Leser, liebe Leserin, gerade Verdachtsberichterstattung hinterfragen, vor allen Dingen dann, wenn es darum geht, einen Menschen sozial zu ächten und seine berufliche Existenz zu vernichten. Oft genug finden sich in sozialen Medien nämlich eben solche Anschuldigungen gegenüber „ganz normalen“ Menschen, verbunden mit der Aufforderung zur Ächtung. Da liest man dann auch von Leuten, die mit der Angelegenheit nichts zu tun haben, dass sie den Arbeitgeber des Verdächtigten kontaktiert hätten mit der Frage, ob so ein moralisch fragwürdiger Mensch wirklich dort beschäftigt werden müsse.

Es ist einfach, einen Mob zu entfesseln und es ist bedauerlicherweise auch einfach, in den Sog eines solchen Mobs hineingezogen zu werden. Achten Sie bitte darauf, dass Ihnen das nicht passiert. Hinterfragen Sie solche Meldungen und halten Sie sich zurück, bis der Nebel der Anschuldigungen sich lichtet und ein klarer Blick auf die Tatsachen möglich ist.

Was mich an solchen Berichten am allermeisten wütend macht, ist der Schaden, den sie für die Opfer tatsächlicher Gewalttaten anrichten. Es ist nicht möglich, einem Opfer einer Gewalttat einfach so zu glauben, da ist immer eine Prüfung vonnöten. Und je intensiver in der Berichterstattung die Wahrheit verbogen wird, je mehr gelogen oder übertrieben wird, desto schlimmer wird es für die Menschen, die tatsächlich Gewalt erlebt haben und den Nachweis darüber führen müssen. Desto angstbesetzter wird der Gang zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft. Desto größer die Furcht, man könne ihnen nicht glauben. Und das ist das ganz besonders Perfide.

Achten Sie auf das, was Sie unwidersprochen glauben. Suchen Sie nach Quellen und suchen Sie nach Lücken in der Berichterstattung. Und springen Sie nicht auf den Karren auf, der durch soziale Medien rollt, auf dem die Menschen sitzen, mit Steinen werfen und „hängt ihn höher“ brüllen. Auch wenn der Verdächtigte ein wirklich, wirklich unsympathischer, schmieriger, widerwärtiger Typ ist. Das heißt noch lange nicht, dass alles stimmt, was man über ihn sagt. Warten Sie ab, es eilt nicht.

Weiterführende Links zum YouTube-Kanal „BlackBeltBarrister“:
Russel Brand: This is the ONLY truth of the matter thus far
Russell Brand: UK Government Committee Steps in
Committee Writes to X Corp about Russell Brand