Ermittler, Richter – und dann auch noch Henker?

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Das Phänomen der Cancel Culture ist nicht wirklich neu. In Newsgroups, Foren und auf Message Boards kam es schon in den Anfangszeiten des Internet immer wieder einmal vor, dass Menschen für ihre Äußerungen öffentlich beschämt wurden. Der erste Fall, der mir in Erinnerung ist, war Justine Sacco, die auf ihrem Flug von New York nach Cape Town einen Tweet geschrieben hat, der innerhalb kürzester Zeit Wut und Empörung auf Twitter auslöste. Die Konsequenz war, dass sie, als sie in Cape Town aus dem Flugzeug stieg, keinen Arbeitsplatz mehr hatte, weil die empörten Twitter-User ihren Arbeitgeber informiert und auf ihre fristlose Kündigung gedrängt hatten. Dieser Erfolg hat die Gemeinschaft derer, die sich berufen fühlen, in sozialen Netzwerken für vermeintliche Gerechtigkeit anzutreten, derart beflügelt, dass sich daraus eine richtiggehende Kultur – eben die Cancel Culture – entwickelt hat.

Die freie Äußerung einer Meinung ist in Deutschland vom Grundgesetz garantiert. Sagen darf man hierzulande fast alles, man darf nachweisbare wissenschaftliche Erkenntnisse in Zweifel ziehen, man darf Rassist sein oder Misogynist. Alles das darf man – auch wenn es natürlich Konsequenzen nach sich zieht. Üblicherweise endet man, wenn man sich rassistisch, frauenverachtend, wissenschaftsfeindlich oder auf andere Weise gesellschaftlich nicht anerkannt äußert, in einer gewissen Isolation, die einem nur noch den Weg in Gruppen, die diese nicht anerkannten Meinungen teilen, übrig lassen. Nichtsdestoweniger ist die freie Meinungsäußerung so gestaltet, dass wirklich nur dann eingegriffen werden kann, wenn der, der sich äußert, sich dabei auch strafbar macht. Als krassestes Beispiel nenne ich die Leugnung des Holocaust.

Darüber hinaus findet die Meinungsäußerung ihre Grenzen in den Straftatbeständen der Beleidigung, der üblen Nachrede und der Verleumdung (der Gesamtkomplex dieser Straftaten findet sich in den §§185 – 200 des Strafgesetzbuchs). Diese Delikte werden nicht von Amts wegen verfolgt, hier muss derjenige, der glaubt, beleidigt oder verleumdet worden zu sein, Anzeige erstatten; man nennt das Antragsdelikt. Insgesamt ist dieser strafrechtliche Komplex etwas kniffelig, weil hier jeweils eine sorgfältige Würdigung stattfinden muss, die sicher auch den Zusammenhang, in dem die jeweilige Äußerung getätigt wurde, mit beleuchten soll.

Ein Kurznachrichtendienst hat das nicht nötig. Als Justine Sacco ihren Tweet absetzte, hatte man 140 Zeichen zur Verfügung, um seine Gedankenfetzen ins Internet zu blasen. In den seltensten Fällen schrieb jemand einen Thread (also mehrere Tweets, die zusammenhängend sozusagen an einem Faden [Thread] zusammenhängen), so dass praktisch jeder Tweet für sich allein stand und jeweils vom Leser so interpretiert werden konnte, wie der die Nachricht eben sah. Hat jemand nachgefragt, um die Äußerung einzuordnen? Natürlich nicht. Justine war im Flugzeug und hatte ihr Handy ausgeschaltet. Und selbst wenn sie sofort hätte gegensteuern können, hätten die aufgebrachten Twitter-User ihr vermutlich nicht geglaubt.

Diese Unart, Menschen in sozialen Medien für jede auch noch so dumme, unbedachte Äußerung zur Rechenschaft zu ziehen (neudeutsch: „call out“), bringt denen, die sich im Kreise der „Gerechten“ wähnen, ungefähr dieselbe Befriedigung wie weiland der Dorftratsche, die die ungeliebte Nachbarin der Hexerei bezichtigte – und wenn es möglich wäre, das Internet zu nutzen, um Menschen zu lynchen oder auf den Scheiterhaufen zu stellen, wäre das inzwischen gang und gäbe. Die gerechten Teilnehmer der sozialen Gerechtigkeitsliga ermitteln die Missetäter, sie legen die Strafe fest und hängen sie virtuell – indem sie dafür sorgen, dass diese Unmenschen ihren Arbeitsplatz verlieren, von ihrem sozialen Umfeld geächtet werden und letztlich isoliert dastehen.

Dass dieses Verhalten mittelalterlich ist, ist den meisten nicht bewußt. Sie hassen die Polizei, die „nichts tut“, sie misstrauen den Gerichten und sie machen die Social-Media-Gesetze, nach denen geurteilt wird. Sie prügeln Netzwerkdurchsetzungsgesetze durch, die ohne sie gar nicht notwendig wären, weil unsere Gesetze gut genug sind, wenn sie denn vernünftig angewendet würden. Und sie schämen sich auch nicht, wenn sich herausstellt, dass sie jemanden zu Unrecht den Arbeitsplatz gekostet haben, wenn sie den falschen Mann die Familie gekostet haben, denn sie sind die Gerechten und die eine oder andere falsche Hexe, die verbrannt wird, muss man halt in Kauf nehmen, wenn man alle Hexen erwischen möchte, nicht wahr?

Dieses Verhalten hat bedauerlicherweise vor allem auf die Regenbogenpresse abgefärbt. In der Hoffnung, als Erster zu berichten, den ersten Artikel vertwittern zu können, damit man die Aufmerksamkeit der Teilnehmer in den sozialen Medien und damit Klicks bekommt, wird oft auf ernsthafte Recherche verzichtet. Umgekehrt, wenn in Social-Media-Nachrichten Gerüchte in die Welt gesetzt werden, kann es gut und gern passieren, dass jemand sich plötzlich einem wirklich abscheulichen Vorwurf ausgesetzt sieht, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was hier eigentlich los ist.

Und so lesen wir in Internet-Erzeugnissen von „Bild“ über „Spiegel“ und „Bunte“ bis hin zur „FAZ“, dass Menschen, die mehr oder weniger bekannt sind, ihre Frauen schlagen, ihre Männer betrügen, ihre Familien verlassen und ihre Fans enttäuschen. Manchmal kann man auch irgendwelche Gerichtsurteile einflechten, die man zwar nicht gelesen hat (ja, noch nicht einmal das Verfahren selbst verstanden hat), aber das macht nichts, solange die Empöreria der Gerechten klickt und teilt, was das Zeug hält. Das bringt Werbeeinnahmen, damit wird sehr, sehr viel Geld verdient.

Ja, und so rutschen wir in eine Desinformationsgesellschaft, denn was mit der Gattin des Präsidenten oder dem Sohn des bekannten Schauspielers klappt, das geht natürlich auch mit Wissenschaftlern und deren Erkenntnissen, das funktioniert mit Politikern, Regierungen, Stadtverwaltungen, Pharmaunternehmen und, und, und. Natürlich glaubt Lenchen, die den schönen Jüngling, der den Liebhaber in ihrer Lieblingssoap spielt, für einen verachtenswerten Vergewaltiger hält, nicht daran, dass in Impfstoffen von Bill Gates hergestellte Chips enthalten sind, das ist ja Blödsinn. Und Hagen, der sich schon deshalb nicht impfen lässt, weil er befürchtet, dass seine Gene verändert werden, ist überzeugt dass oben genannter Jüngling ein überaus guter Mensch ist, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Beide eint, dass sie glauben, was geschrieben steht und ihrer persönlichen Bezugswelt entspricht, verstärkt und multipliziert durch ihre Brüder und Schwestern im Geiste.

Ich fürchte, aus diesem Text spricht eine gewisse Bitterkeit. Ich bin bitter, das ist richtig. Es geht mir unsäglich auf die Nerven, wenn von „Hassrede“ (einer unjuristischen Bezeichnung für das englische Wort „Hatespeech“) gesprochen wird, wenn Gesetze mit glühend heißer Nadel gestrickt werden, um den Mob zu beruhigen. Ja, es ist vollkommen richtig, dass online gemobbt wird, dass einem schwindlig werden kann. Aber das ist tatsächlich ein gesellschaftliches Problem und ein Problem des Umgangs mit dem Medium.

Meinem Bildschirm kann ich alles sagen. Mein Bildschirm ist kein Mensch. Dass am anderen Ende der Leitung ein Mensch sitzen könnte, der mit dem, was ich in meiner Wut in die Textbox an meinem Bildschirm schreibe, nicht zurecht kommt, weiß ich nur in der Theorie. Und so ist ein sehr explosives Gegeneinander entstanden, eine Art Schlacht, in der jeder hingemetzelt wird, der irgendwie anders ist – und das, wo andernorts Diversity sonst großgeschrieben wird. Es ist sozusagen ein Krieg entstanden, in dem um die Hoheit über Meinung und Moral gekämpft wird.

Was da natürlich auch noch wirkt, ist der Gruppenzwang. Mich erinnert das tatsächlich an die Zeiten, da die Kirchen die Deutungshoheit über Moral und Wahrheit hatten. Die Hexenverfolgung habe ich ja schon genannt, da gab es aber noch einiges mehr. Empfohlen sei in diesem Zusammenhang die Lektüre des Buches „Eunuchen für das Himmelreich“ von Uta Ranke-Heinemann. Wir sollten immer im Hinterkopf haben, dass gewisse Verhaltensweisen seit Jahrhunderten, teils seit Jahrtausenden in unser Verständnis von menschlichem Zusammenleben eingebrannt sind und dass diese Verhaltensweisen nicht unbedingt gut für eine moderne, offene Gesellschaft sind.

So etwas verändert sich nicht über Nacht, auch nicht durch äußere Einflüsse oder Formalismen wie die Anpassung der Sprache. Wir laufen also immer Gefahr, auf uns selbst hereinzufallen und die sozialen Medien, die uns zur Verfügung stehen, machen es uns hier wirklich sehr leicht. Was kann uns da also helfen?

Für Medien und Berichterstatter wäre es doch mal quasi alternativlos, auf die guten, alten Regeln für Berichterstattung zurückzugreifen: Mindestens zwei, besser drei seriöse Quellen. Twitter, Facebook oder Instagram können nur dann als Quelle gelten, wenn sichergestellt ist, dass der Accountinhaber sich zitierfähig äußert. Wenn man also so ein Gerücht findet, sollte man nachsehen, ob es irgendwo verläßliche Bestätigungen gibt. Außerdem wäre es meiner Ansicht nach gut, Bericht zu erstatten, wenn es denn etwas zu berichten gibt. Was nützt dem Leser das Wissen, dass gegen die berühmte Schauspielerin angeblich wegen Kaufhausdiebstahls ermittelt wird? Könnten wir die Ermittlungen vielleicht mal abwarten und erst berichten, wenn ein Ergebnis vorliegt? Wenn die schöne, nicht ganz so berühmte Schauspielerin gegen ihren geschiedenen Mann, ebenfalls Schauspieler, den Vorwurf erhebt, er habe sie geschlagen und regelrecht eingesperrt, dann ist das erstmal genau das: Ein Vorwurf, der nicht bestätigt ist. Wenn das aber in irgendeiner „Herzenszeitung“ berichtet wird, dann wird dieser Vorwurf zum Narrativ, zu einer Art Wahrheit und – schlimmer noch – er kann so stehenbleiben. Das liegt in der Pressefreiheit, die natürlich erlaubt, dass Schauspielerin A den Schauspieler B einer nachgerade widerlichen Straftat beschuldigt. Ob das jetzt wirklich wahr ist, ist relativ egal, sie hat das ja gesagt. Also: Vielleicht erstmal mit dem  Skandalgeschrei zurückhalten und abwarten, was bei der Story so rumkommt. Kriminell wird es, wenn dann Zivilklagen für Strafverfahren ausgegeben werden und in der Folge Menschen Straftaten nachgesagt werden, für die sie nie vor Gericht standen und schon gar nicht verurteilt wurden.

Für die aktiven Social-Media-Teilnehmer wäre es wirklich wichtig, vor dem Sprung auf die skandalöse Aussage erst einmal die Finger von der Tastatur zu nehmen und sich zu fragen, ob dieser Kommentar, dieser Retweet, diese Weiterverbreitung wirklich notwendig ist. Eine weitere gute Frage, über die man gerne vorher nachdenken darf, ist die, warum man sich über genau diese Meldung genau so aufregt. Welches Gefühl spricht dieser Tweet, dieser Post eigentlich an? Warum habe ich das Bedürfnis, jetzt sofort mit den unflätigsten Beschimpfungen zu reagieren und, wenn es mir möglich ist, der sozialen Zerstörung dessen, von dem die Rede ist? Ich weiß, die Überprüfung der eigenen Reaktionen und des eigenen Denkens ist sehr aus der Mode gekommen. Vielleicht wäre hier ja auch mal wieder eine gute Aufgabe für die Schulen, die Kinder und Jugendlichen nicht nur helfen sollten, Wissen zu erwerben, sondern auch umsichtiges Denken zu lernen.

Letzlich läuft es darauf hinaus, dass wir alle vornehmlich zwei Aufgaben haben: Tief durchatmen und ignorieren lernen. Nur weil alle irgendetwas sagen, heißt das nicht, dass das auch stimmt. Nur weil zwei Wissenschaftler völlig unterschiedliche Standpunkte haben, heißt das nicht, dass der, dessen Standpunkt mir nicht passt, auch der ist, der falsch liegt. Und dann sollten wir uns vor allem eins vor Augen halten: Nur weil etwas schriftlich niedergelegt ist, ist es nicht unbedingt wahr, auch wenn wir von Kindesbeinen an gelernt haben, dass das, was wir lesen können, richtig ist. Geduld haben, abwarten und sich für die Meinungsbildung Zeit lassen ist wichtiger als „ERSTER!“ rufen zu können.

Bleibt cool und seid im Zweifelsfall dann einfach mal Letzter.

Beitragsbild: Peter H auf Pixabay

Eindrücke vom Abzug aus Afghanistan

Ich bin außenpolitisch überwiegend mit Ahnungslosigkeit geschlagen, das vorweg. Jetzt schreibe ich trotzdem auf, was meine Eindrücke von den Ereignissen in Afghanistan sind. Das tue ich aus zwei Gründen: Das Internet ist voll von Leuten, die mir helfen können, meine Sichtweise zu korrigieren, falls das nötig ist und ich fürchte, dass ich mit dem, was ich sehe, nicht allein bin. Es wäre auch zuviel verlangt vom „Durchschnittsmenschen“, über derart komplexe außenpolitische Vorgänge vollumfänglich Bescheid zu wissen. Also los, fangen wir mit der ersten Erinnerung an, die ich an die Berichterstattung von diesem Kriegsgeschehen habe:

Horst Köhler, damals Bundespräsident, sagte am Rande eines Truppenbesuchs folgende, sehr wahre Worte:

„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“

Das war der kommunikative Supergau, den ein Bundespräsident sich wirklich nicht leisten durfte und es hat Horst Köhler ja dann auch prompt den Job gekostet. Nichtsdestoweniger war die Einschätzung vollkommen korrekt. Keine Regierung dieser Welt wird sich an einem Krieg beteiligen, wenn es nicht um eigene Interessen geht. Das ist so, das war so – und das wird immer so sein. Hätten wir und unsere Aliierten für unseren Außenhandel und sonstigen Interessen freie Bahn gehabt, wäre die Herrschaft der Taliban nie in Gefahr gewesen. Jedenfalls nicht durch den Westen; der Konflikt hätte sich dort unter den Bürgerkriegsparteien abgespielt und wir hätten höchstens humanitäre Hilfe geschickt, niemals aber Militär, niemals Ausbilder.

So, das heißt für mich, dass dieser Einsatz folgende Ziele verfolgt haben muss:

  • Sicherstellung unserer wirtschaftlichen Präsenz in der Region
  • Sicherung von eventuell vorhandenen Rohstoffen in der Region
  • Ausbildung von Polizei und Armee zum Schutz unserer Interessen (Industrieanlagen, Lager, dgl.) in der Region

Dass man nebenher das Feigenblatt des humanitären Einsatzes noch vor die empfindlichen Stellen des Regierungskörpers halten konnte, war sehr praktisch. Dumm, dass dieser Elefant im Porzellanladen von einem Bundespräsidenten damals so dämlich war, tatsächlich zu sagen, was Fakt war, und das auch noch zitierfähig. So etwas tut man nicht!

Wie humanitär unser Interesse an Afghanistan tatsächlich ist, sieht man an dem Truppenabzug. Der US-amerikanische Präsident zieht die Truppen entgegen aller Warnungen im Rekordtempo ab und innerhalb kürzester Zeit kommen die Taliban zurück nach Afghanistan. Das bedeutet eine lebensbedrohliche Katastrophe für

  • alle Mitarbeiter, die mit uns zusammengearbeitet haben (Ortskräfte)
  • Frauen und Mädchen
  • alle, die der radikalen Koranauslegung der Taliban nicht folgen
  • alle, die in das orthodoxe Raster der Taliban nicht passen

.

Wir haben, das haben inzwischen sogar einige unserer Politiker laut gesagt, eine Verpflichtung gegenüber den Menschen in Afghanistan, vor allen Dingen gegenüber den sogenannten Ortskräften. Sie haben uns in unserem Tun und für das Erreichen unserer Ziele unterstützt, das macht sie zu Verrätern in den Augen der Taliban und auf Verrat steht der Tod. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin der Botschaft, des Konsulats, Übersetzer für die Soldaten der Bundeswehr, alle, die handwerkliche Arbeit geleistet haben, sind genau dieser Gefahr ausgesetzt und sollten sie hingerichtet werden, so klebt ihr Blut an unseren Händen. Und nein, ich sage bewußt nicht „an den Händen unserer Regierung“. Eine Mehrheit von uns hat diese Leute gewählt, wir sind hier in einer Demokratie, also sind wir alle mitverantwortlich. Man kann sich nicht aussuchen, wann „wir“ die Guten, die Medaillengewinner, die Weltmeister, die helfenden Hände, die freundlichen EU-Nachbarn, sind und wann „die“ (Regierung, nämlich) die üblen Spießgesellen sind, die unsere Soldaten in den Krieg schicken, die Letzter werden oder vierter, die die einen Hilfsbedürftigen den anderen Hilfsbedürftigen vorziehen. Ganz oder gar nicht, das ist auch Teil der Demokratie, auch wenn viele Menschen das nicht begreifen wollen.

Die Taliban erklären jetzt, sie wären ja ganz andere Taliban als die, die vor 20 Jahren regelmäßig in Rachsucht und Gewalttätigkeit über die Menschen in Afghanistan hergefallen sind. Sie sagen, sie würden alles vergessen und verzeihen. In Kabul ist es momentan auch wohl erstaunlich ruhig. Das, was im Inland los ist, bekommen wir nicht mit. Trotzdem scheinen die Menschen sich zu fürchten. Clarissa Ward, die momentan für CNN vor Ort in Kabul ist, hat Stephen Colbert ein sehr interessantes Interview gegeben. Sie sagt:

So viele Menschen fühlen sich zurückgelassen, sie haben das Gefühl, links liegengelassen zu werden und sie sind zutiefst verängstigt und voller Bitterkeit.

Auf die Frage, ob das Gefühl bestünde, dass die Taliban niemanden von diesen Leuten [die die USA-Truppen unterstützt haben] außer Landes lassen würden, also grundsätzlich alle einsperren würden, sagt sie:

Ich denke nicht, dass dieses Gefühl jetzt schon besteht. Ich meine, die Taliban haben definitiv gesagt, bitte geht nicht, denn sie wissen, dass aus der PR-Perspektive heraus diese Bilder von diesen Menschenmassen, die sich verzweifelt an die Flugzeuge der US-amerikanischen Luftwaffe klammern, um außer Landes zu kommen, sie nehmen wahr, dass das wirklich schlecht für sie aussieht und sie versuchen in diesem Mement zu signalisieren, dass sie eine andere Art von Taliban sind, dass sie regieren können, dass sie diplomatischer sind und deshalb wollen sie offensichtlich keine Szenen auf dem Boden, die diesem Narrativ direkt entgegenstehen. Ich habe noch nicht das Gefühl, dass sie Menschen direkt am verlassen des Landes hindern wollen, aber das ist offensichtlich die große Angst.

Die andere große Angst ist, dass sobald die Amerikaner zusammengepackt und die Zugbrücke hochgezogen haben, wie werden die Afghanen, die mit den Vereinigten Staaten zusammengearbeitet haben, wie wickeln sie den Papierkram ab, reichen dieses Dokument ein, mit wem können sie sprechen? Diese Leute dachten, sie hätten mehr Zeit, um sich auf diesen Moment vorzubereiten, vielleicht Monate. Es waren Stunden.

Die Antwort auf die nächste Frage ist das, was mich auch bewegt. Stephen Colbert fragte, was die Menschen in Afghanistan, die mit den Amerikanern und der amerikanischen Präsenz gelebt haben, über den amerikanischen Rückzug und die Amerikaner jetzt denken. Clarissa Ward sagte dazu:

Wissen Sie, ich denke das ist ein wirklich wichtiger Punkt für die Afghanen, mit denen ich gesprochen habe; sie werfen Amerika nicht vor, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Sie haben von Amerika nicht erwartet, weiter jahrzehntelang den Krieg eines anderen Landes zu führen und sie verstehen vollkommen, dass das afghanische Volk die Verantwortung für sein eigenes Land übernehmen muss. Aber wo die Bitterkeit, die Traurigkeit, wo die Angst herkommt, ist die Art, in der dieser Rückzug ausgeführt wurde, das Chaos darin, die Eile, die Tatsache, dass den Taliban während dieser Verhandlungen nicht mehr Zugeständnisse abgerungen wurden, daher kommt der Kummer, daher kommt die Bitterkeit und daher kommt die Wut.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gefühle gegenüber den Deutschen wesentlich anders sind. Und ich kann das gut verstehen. Was das für die Zukunft der Region heißen mag, für die weltweite Sicherheitsstruktur, ist wohl wirklich kaum absehbar. Wie viele Afghanen werden sich wohl schon aus Enttäuschung und Wut gegen den Westen, gegen die NATO wenden?

Ein Thema, das mich besonders besorgt, ist die Frage, was wohl aus den Frauen und Mädchen wird. Die Taliban sind Muslime, ja. Da gibt es, ebenso wie bei den Christen, Abstufungen, Schattierungen. Die Taliban gehören wohl zu den konservativsten, othodoxesten Muslimen überhaupt. Frauen haben es da schwer, wenn sie sich nicht damit abfinden möchten, wie Dinge behandelt zu werden. Schon jetzt kursieren Bilder von Taliban, die sich unter den Mädchen, die sie vorfinden, eine Frau aussuchen und einfach mitnehmen. Ehefrauen sind in diesem Zusammenhang eher so etwas wie Sklavinnen, die für die Zufriedenheit des Mannes zuständig sind. Mädchen zur Schule zu schicken gilt als sündhaft. Clarissa Ward erwähnte, dass man auf den Straßen praktisch keine Frauen mehr sieht, dass sie aus Angst vor Repressalien zuhause bleiben. Nach 20 Jahren, in denen ja auch Kinder geboren wurden und in einem gänzlich anderen Klima heranwuchsen, scheint das erstaunlich. Den Taliban scheint dort also ein Ruf vorauszueilen, der Angst und Schrecken verbreitet, auch wenn sie jetzt sagen, sie wären anders. Moderner? Besser? Sie werden das beweisen müssen.

Der US-amerikanische Präsident Biden sagte, die Truppen seien nach Afghanistan geschickt worden, um weitere Anschläge wie den vom 11. September 2001 zu verhindern und dieses Ziel sei nun erreicht. Wie weit ist dieses Ziel erreicht, wenn genau die Menschen, die für diesen und viele weitere Anschläge verantwortlich gemacht wurden, jetzt wieder das Land beherrschen? Können wir sicher sein, dass wir keine Renaissance des radikalen Islamismus erleben? Ich denke, dass wir das nicht sein können, vor allem, wenn man bedenkt, wie rasend schnell die Taliban nach dem Truppenabzug das Land wieder in Besitz genommen haben.

Bei ihrem Vormarsch haben die Taliban auch Biometrie-Geräte und -Datenbanken erbeutet, die durchaus auch darauf abgespeicherte Daten enthalten. Wir dürfen uns nicht der Vorstellung hingeben, dass diese Menschen, nur, weil sie sich fransige Bärte wachsen lassen und Kleidung tragen, die wir in längst vergangenen Zeiten verorten, nicht mit moderner Technik umgehen können. Sie haben militärisches Gerät, das das afghanische Militär von den USA bekommen hat, sie haben Piloten, sie haben nicht nur die Technik, sie haben die Bildung, um mit der Technik umzugehen.

Nein, ich denke nicht, dass dass das afghanische Militär nicht mit entsprechenden Geräten hätte ausgerüstet werden dürfen und ich denke auch, dass die Soldaten mit dem Gerät umgehen können. Aber um es dann auch einzusetzen, brauchen Soldaten nicht nur Wissen und Können, sondern auch den entsprechenden Kampfgeist. Ich fürchte, den haben wir ihnen durch diesen völlig überstürzten Abzug genommen.

Ich hoffe sehr, dass uns das nicht auf die Füße fällt. Und noch mehr hoffe ich, dass das den Afghanen und den Menschen in ihrer Region nicht auf lange Sicht schlimmen Schaden zufügt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Lasagne à la mode de Astrid

Ofen auf 180°C vorheizen! Nicht vergessen!

Achtung! Es gibt Lasagnenudeln, die vorgekocht werden müssen. Anweisungen auf der Packung beachten!

Ragout

2 Zwiebeln in Würfel schneiden,
ca. 1 EL Butter im Topf zerlassen, die Zwiebeln darin glasig dünsten,
500 g Hackfleisch darin anbraten.
2 Dosen stückige Tomaten oder
500 g frische Tomaten, stückig geschnitten und 2 EL Tomatenmark
dazugeben.
1 Zehe Knoblauch (oder mehr, je nach Geschmack) schälen, kleinschneiden und mit einer Gabel in etwas Salz zerdrücken, dazugeben und alles auf kleiner Flamme köcheln lassen; kurz vorm Schichten noch italienische Kräuter (Oregano, Basilikum, evtl. etwas Thymian oder fertige Mischung)  unterrühren

Béchamelsauce

80 g Butter in einem neuen Topf zerlassen, dann
80 g Mehl langsam unter Rühren einstreuen, bis eine Mehlschwitze entsteht und unter weiterem Rühren (am Besten mit dem Schneebesen)
800 ml Milch langsam dazugießen; aufkochen lassen. Sobald eine sämige, dickliche Sauce entstanden ist,
ca. 1 TL Fondor oder Gemüsebrühe einrühren.

Lasagne schichten

Eine  Lasagneform oder Jenaer Glasform ausfetten (Butter oder Öl); den Boden mit Ragout bedecken, dann Lasagnenudeln darauf schichten. Darauf dann noch einmal Ragout, dann Béchamelsauche und Nudeln. Die letzte Schicht sollte Béchamelsauce sein.  Mit geriebenem Käse bedecken und ab in den vorgeheizten Ofen, ca. 30 Minuten (Nudelpackung beachten!) backen.

Schwarz-Weiss-Denken

Vorgestern stieß ich auf eine große Ankündigung: Der neue Superman wird von einem schwarzen Schauspieler dargestellt. Alle Welt jubelt und feiert – für mich fühlt sich das aber unangenehm an.

Hurra, ein schwarzer Superman! Endlich! Sorry, ich kann es nicht verstehen. Superman war seit seiner Erfindung weiß. Er verhält sich wie ein Weißer, er bewegt sich in einem überwiegend weißen Kulturkreis, seine Kusine ist weiß und er wurde von Weißen ersonnen. Sicher, das kann man strukturrassistisch nennen, das passt ja auch zu der Zeit, in der Jerry Siegel und Joe Shuster den Superman geschaffen haben. Das erklärt auch, warum Frauen lange Zeit die hilflosen, schwachen Wesen darstellen mussten, die in Schwierigkeiten gerieten und ihren Superretter innig angestrahlt haben, sobald die Gefahr gebannt war. Und es ist vollkommen richtig, dass Schwarze, Asiaten, und Angehörige indigener Völker gerade in den spannenden Superheldengeschichten so unterrepräsentiert sind, dass auch dort Identifikationsfiguren dringend notwendig sind.

Dasselbe gilt für Frauen in der Unterhaltungsbranche, auch wenn es da langsam besser wird. Gerade im Moment führt uns die Serie „WandaVision“ auf Disney+ vor Augen, wie viel weiter wir bereits gekommen sind. Die Serie führt den geneigten Zuschauer durch die Sitcom-Kultur von den 50er Jahren bis heute, was ausgesprochen interessant anzusehen ist. Trotzdem wurden auch bei der Darstellung „Frau-statt-Mann“ wirklich Fehler gemacht. Beispielsweise die „Ghostbusters“ von 2016, für den die Hauptrollen mit Frauen besetzt wurden – und die leicht dümmliche Sekretärin ein Mann war.

Ich denke nicht, dass man so einfach aus Weiß schwarz und aus Mann Frau machen kann. Das heißt, natürlich kann man – man wird aber dem Anliegen nicht gerecht. Einer der gelungensten Superheldenfilme der letzten Jahre war „Black Panther“. Dieser Film basiert aber auf einem schwarzen Superhelden innerhalb einer schwarzen Kultur. Ich denke, dass es durchaus möglich ist, einen schwarzen (Super-)Helden innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft überzeugend und vorbildhaft darzustellen. Luke Cage ist ein gutes Beispiel dafür, ebenso Black Lightning. Da muss dann aber auch ein bisschen mehr Kreativität investiert werden als einfach nur ein simples aus-weiß-mach-schwarz. Mich ärgert das und ich finde, dass die Unterhaltungsindustrie es sich hier wirklich zu einfach macht. Nur, weil eine Marke (hier: Superman) eingeführt ist, heißt das nicht, dass man sie dafür nutzen kann, gesellschaftliches Umdenken zu erzeugen. Ich fürchte sogar, dass das danebengehen wird.

Dasselbe gilt für die Frauen. Wirklich interessante Frauenrollen sind rar. Gute Filme, die Frauen realistisch darstellen, kann man mit der Lupe suchen. Entweder es gibt das Weibchen-Schema, das die rehäugige Nicht-Heldin, die ohne männliche Hilfe nicht auskommt, herausstellt oder es ist die Mannweib-Heldin, die niemanden braucht und und auf die Kerle in ihrem Leben dankend verzichten kann. Alles dazwischen ist relativ selten (aber es gibt Filme, die Zwischentöne anschlagen, zum Beispiel den Film Courage under Fire [deutsch: Mut zur Wahrheit] aus dem Jahr 1996). Interessante Frauenrollen sollten meiner Ansicht nach Frauen zeigen, die sich wie Frauen verhalten – und da gibt es hier und da Unterschiede zum männlichen Verhalten, ohne dass man da auf das Klischee der Jungfrau in Nöten zurückgreifen müsste.

Das wünsche ich mir von Filmemachern: Dass sie tatsächlich in die Welt derer eintauchen, die sie porträtieren wollen, die kulturellen Hintergründe zeigen, aufzeigen, wie wir unterschiedlich sein können, ohne dass wir voneinander getrennt sein müssen. Sie sollen Licht werfen auf das, was im Schatten ist, Stärken und Schwächen zeigen. Schwarz ist nicht weiß, weiblich ist nicht männlich, Plus ist nicht minus. Wenn wir wollen, dass wir gesellschaftlich zusammenwachsen, müssen Unterschiede so selbstverständlich werden, dass sie keine Rolle mehr spielen und wir müssen wahrnehmen, dass das Gleiche eben nicht dasselbe ist. Das ist weder Rassismus noch ist es Sexismus – und es ist schon mal überhaupt keine Gleichmacherei. Wer Vielfalt will, muss meiner Ansicht nach die Vielfalt leben lernen.

Unsichere Zukunft

Plötzlich und unerwartet steht unser Leben auf dem Kopf. Ein Virus, viel zu winzig, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen, bringt unseren Alltag zum Erliegen. Menschen bleiben zuhause. Wohl dem, der Familie hat, da ist wenigstens noch Ansprache möglich, solange es ausreichend Rückzugsorte gibt. Singles wie ich sitzen allein zuhause und telefonieren oder sehen fern. Nie habe ich Netflix so sehr zu schätzen gewußt wie derzeit.

Wenn aber zwischendurch einmal Pause ist, wenn ich innehalte, nicht mehr versuche, mich in eine andere Welt zu begeben, dann überfällt mich ein ungutes Gefühl. Das liegt daran, dass ich mich informiere. Sicherlich sind Hauptquellen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die Onlineausgaben von Tageszeitungen (gelobt sei an dieser Stelle Twitter, die alte Linkschleuder, die mir viel Recherchearbeit abnimmt). Dazu kommen Dinge, die einfach nicht ausbleiben können: Die Kommentare meiner Familie auf WhatsApp, zum Beispiel, wo die Linkschleuder eben nicht meine wohlgepflegte, handverlesene Twitter-Timeline ist, sondern oft genug die obskureren Ecken in Facebook. Die „Diskussion“ der Auswirkungen des Virus und der Maßnahmen, die getroffen werden müssen, wird auch dadurch nicht leichter, dass Ärzte und Wissenschaftler (richtig, da gibt es einen Unterschied) teils ebenfalls sehr unterschiedliche Ansichten haben.

So sitzen wir allein (oder zu zweit, dritt, viert…) in unseren Wohnungen, wo wir zu viel Zeit zum Denken haben und zu viel Zeit zum Angst haben.  Das Virus hat uns fest im Griff, obwohl die meisten von uns gar nicht krank sind. Aber das ist eben das Tückische: Niemand kann genau sagen, wen es erwischen wird. Sicher sind Menschen mit einem von Diabetes oder Immunsuppressiva* geschwächten Immunsystem eher bedroht. Sicher sterben auch viele alte Patienten, deren Immunsystem sowieso nicht mehr sehr gut ist, teils mit, teils an Covid-19. Sicher kann man davon ausgehen, dass das Virus relativ jungen Menschen, die gesund sind, nicht viel anhaben kann – meistens. Menschen, die da Ausnahmefälle sind, ohne es zu wissen, hilft das wenig.

Damit sind wir so ungefähr bei der Quintessenz dessen was wir wissen: Das Virus kann gefährlich sein, die Erkrankung kann tödlich enden, es kann grundsätzlich jeden erwischen, auch wenn alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen gefährdeter sind, ein Mundschutz kann von Nutzen sein, die Maßnahmen, die unsere Politiker beschlossen haben, können dazu beitragen, dass wir unser Gesundheitsystem nicht überlasten und damit vermeiden, mehr Menschen zu gefährden als nötig. Kann. Muss aber nicht.

Es ist sehr viel Möglichkeit in den Informationen, die wir bekommen und sehr wenig Gewissheit. Jetzt, wo die Zahlen so schüchtern und vorsichtig besser werden wie die Blattknospen an den Bäumen erscheinen und größer werden, kommen die ersten Rufe nach Lockerung der Maßnahmen. Mehr Geschäfte sollen öffnen dürfen, vor allen Dingen. Mehr geöffnete Geschäfte bedeutet mehr Stadtbummler und das bedeutet, dass Abstände nicht mehr eingehalten werden könnten. So gerne ich mir vielleicht eine neue Jeans kaufen möchte – noch ist mir das Risiko zu hoch.

Durch die Maßnahmen ist auch die Versammlungsfreiheit gefährdet. In meiner wohlsortierten Twitter-Timeline sind die Menschen deswegen grundsätzlich unerfreut, denn sie würden gern demonstrieren, um ihre Freiheit zu schützen, denn die Maßnahmen, um Daten zu erheben, damit man das Virus vorhersagbarer machen können, sind vielerorts in gar keiner Weise mit geltenden Datenschutzbestimmungen zu vereinbaren. Die Befürchtung ist, dass hier Überwachungsmechanismen eingeführt werden, die später kaum noch oder gar nicht zurückgenommen werden können. Diese Befürchtung teile nicht nur ich, sondern auch meine Geschwister, die deutlich konservativer eingestellt sind als ich. Die Frage im Hinterkopf vieler Menschen hierzulande lautet:

Bekommen wir einen Überwachungsstaat durch die virale Hintertür?

Ich kann das nicht beantworten – vermutlich kann das niemand. Unseren derzeit mit den entsprechenden Maßnahmen befassten Politikern traue ich nicht zu, diese Situation, die die Gesellschaft sehr verwundbar macht, für diese Zwecke auszunutzen. Das Problem ist, dass die meisten Beschlüsse sehr schnell gefasst worden sind und die dazugehörigen (rechtlich bindenden) Texte entsprechend mit einer sehr heißen Nadel gestrickt wurden. Was, wenn so Löcher ins Werk gebrannt werden, die für nachfolgende „Politiker“ ein willkommener Türöffner sind? So unwahrscheinlich wie noch vor zehn Jahren ist das heute nicht mehr – und schon damals haben Menschen, die die Informationstechnologie gut kennen, vor den Gefahren des Datenmissbrauchs gewarnt. Heute ist diese Gefahr deutlich größer.

Was soll man jetzt also von alledem halten? Ist dieses Virus gefährlich für uns alle oder nur einige wenige? Ist das Virus selbst tödlich oder muss eine weitere Erkrankung hinzukommen? Sind die Maßnahmen, die ergriffen wurden, ausreichend, nicht ausreichend, übertrieben? Sind „Corona-App“ und ihre Geschwister zu datenhungrig? Entsteht aus der Furcht vor dem Virus endgültig der gläserne Bürger?

Ich weiß es nicht und vermutlich wissen das noch nicht einmal die Fachleute und Experten. Im Moment können wir nur hoffen, dass das alles gut geht. Ich halte uns die Daumen.

*Medikamente zur Unterdrückung des Immundsystems, die beispielsweise nach einer Organtransplantation genommen werden müssen, um Abstoßungsreaktionen zu vermeiden

AIDS war ja so schön…

Es gibt ja nun nicht mehr so viele Leute, die sich daran erinnern, wie es damals war, als die Angst vor AIDS ihren Anfang nahm. Ich muss so um die 10 Jahre alt gewesen sein, als das Thema in mein Bewußtsein drang. An die Schlagzeilen kann ich mich noch gut erinnern. In der Luft lag die Angst vor dem jüngsten Gericht, Hilflosigkeit, Wut und so viele Nuancen dazwischen. AIDS hatte für die Menschen damals den Vorteil, dass es Schuldige gab, die auch rasend schnell ausgemacht waren. Ich brauche nicht darauf einzugehen wer, das wissen wir, glaube ich, alle. Die Erkenntnis, dass es dann doch nicht ganz so einfach ist, hat einen langen, beschwerlichen und sehr, sehr schmerzvollen Lernprozess gebraucht, der bis heute noch nicht wirklich abgeschlossen ist.

Jetzt, nach AIDS, BSE, Vogelgrippe, Schweinepest und was weiß ich noch alles, jetzt ist er da, der Erreger, der uns alle angreift. Es gibt keine Ausnahmen mehr. Sicher, es gibt Risikogruppen, die gefährdeter sind als das Gros der Bevölkerung: Alte Menschen, Diabetiker, Lungenkranke, Menschen mit einem geschwächten Immunsystem… Die sind als erste dran. Aber erwischen kann es diesmal wirklich jeden, keine Ausnahmen mehr.

Das ist schwer zu greifen, denn selbst 100.000 Menschen von 80 Millionen fallen uns nicht wirklich auf, solange wir selbst gesund und munter sind und nicht ins Krankenhaus müssen. Solange niemand ernstlich erkrankt – Corona oder nicht. Wenn die Intensivstationen voller Infizierter sind, wird es auch für die Herzinfarktpatienten eng, es wird für Menschen mit anderen Infektionen extrem schwer. Es wird das Personal in den OPs fehlen, es werden Krankenschwestern und -pfleger fehlen, es werden Menschen sterben, weil nicht genug Leute da sind, die sich um ihre Genesung kümmern. Das ist alles bekannt, seit Wochen, ich erzähle nichts Neues. Und trotzdem gibt es immer wieder Menschen, die nicht einsehen, dass sie auf ihre Bewegungsfreiheit, auf Veranstaltungen, auf den Abend in der Kneipe verzichten sollen.

Schüler sehen die Schließung der Schulen als „Corona-Ferien“ an, auch hier bei mir in der Nachbarschaft war Party. Nein, natürlich nicht alle Schüler – aber genügend, als dass es gefährlich werden kann. Von Massenhysterie ist die Rede, von Panikmache. Gut, ich bin sicher keine Virologin. Ich habe aber lange genug Umgang mit den Menschen in diesem Gesundheitssystem gehabt, um eines wirklich zu wissen:

Es gibt kein Heilmittel gegen Viren!

Deswegen bitten uns Menschen, von denen wir es nicht erwartet hätten, schon fast auf Knien rutschend um Vernunft. Darum, zuhause zu bleiben. Darum, auf Partys zu verzichten. Darum, Menschenansammlungen zu meiden.

Einen Virusinfekt, egal wie leicht oder schwer, muss man durchstehen. In meiner Kindheit hieß es „drei Tag‘ kommt er, drei Tag‘ steht er, drei Tag‘ geht er“. Gemeint war der Schnupfen. Es gibt Medikamente, die eventuell die Symptome lindern, die Erkrankung selbst muss der Körper bekämpfen.Und das kann bei schweren Infekten eben auch mal nicht gelingen und dann tödlich enden.

Deswegen werden jetzt unsere elementarsten Rechte eingeschränkt. Ob da mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird, kann niemand wissen. Die Prognosen der Virologen sind düster, aber eines ist sicher: Wenn mich niemand anhustet, kann ich mich auch nicht anstrecken und ich kann den Infekt nicht weitertragen. Ob die Maßnahmen, die unsere Politiker jetzt ergreifen, überzogen sind, mag ich nicht fragen. Wonach ich frage, das ist die Intention. Und da bin ich sehr überzeugt, dass in diesem besonderen Fall mal tatsächlich keine Ruchlosigkeit dahintersteckt.

Ich halte es in diesem speziellen Fall für sinnvoll, den Menschen vorzuschreiben, dass sie zuhause bleiben sollen. Ich halte das Aussetzen des Versammlungsrechts für gerechtfertigt, weil es für alle gilt. Das Einsperren nur von Risikogruppen würde ich heute genauso ablehnen wie ich es zu Zeiten von AIDS abgelehnt habe.

Wichtig ist jetzt, dass wir jetzt dem gemeinsamen Feind möglichst keine Angriffsfläche bieten. Und dieser Feind ist nicht „die Politik“, nicht „die Wirtschaft“ auch nicht der Nachbar, der hustet und die Frau im Bus, die niesen muss. Der Feind ist das Virus. Und den bekämpfen wir am Besten, wenn wir zuhause bleiben. Wenn zu viele Menschen das nicht einsehen, dann eben gezwungenermaßen.

Das Beitragsbild entstammt meiner Lieblingsquelle, Pixabay. Der Fotograf ist Gert Altmann.

Neues Jahr, neue Wege

Politik ist und bleibt ein anstrengendes Geschäft. Die meisten Leute können sich nicht vorstellen, dass Politik tatsächlich in der Hauptsache aus Reden, Zuhören, Konsens finden, wieder Reden, wieder Zuhören, Anträge formulieren, Anträge lesen, Anträge diskutieren, Anträge abstimmen besteht. Oft nehmen Menschen an, dass Veränderungen schnell gehen könnten (und müssten). Politik ist aber kein kleines, wendiges Dinghi, sondern eher ein sehr großes, sehr schwerfälliges Containerschiff. Die Anstrengung, so ein Schiff zu navigieren, ist groß und zehrt an den Kräften aller Beteiligten.

Deswegen haben wir uns hier auf das System der repräsentativen Demokratie geeinigt. Das Volk ist der Souverän, jeder einzelne von uns (solange wir über 18 Jahre alt sind und im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte). Wir haben Parteien, in denen das, was von den dort mitarbeitenden Menschen als wichtige Ziele wahrgenommen wird, in Anträge gegossen wird, dann abgestimmt und dann für die Wähler als Programm präsentiert. Die Wähler könnten also tatsächlich informiert in Wahlen gehen und ihre Aufgabe als Souverän wahrnehmen. In der Praxis tun sie das nicht.

Jede Partei verteilt im Wahlkampf kleine Zettelchen (sogenannte Flyer), auf denen das Wichtigste aus dem jeweiligen Programm zu lesen ist. Meistens wandern diese Flyer ungelesen in Mülleimer oder bleiben irgendwo auf der Straße liegen. Die Entscheidung, wer gewählt wird, hängt überwiegend von Sympathie ab und davon, wofür eine Partei steht. Die SPD stand lange Zeit für Soziales, CDU und CSU für konservative Politik (vorsichtige Veränderungen, wenn überhaupt), die Grünen für Umweltpolitik, die FDP für freiheitliche Werte; etwas später kam dann die Linke hinzu, die als Nachfolger der SED-Diktatur wahrgenommen wurde (und teilweise noch wird). Was in den Programmen steht, interessiert die meisten Wähler  nicht, sie haben anderes zu tun.

Das verleitet die verantwortlichen Menschen innerhalb der Parteien oft dazu, anzunehmen, dass die Wähler mit dem, was in den Programmen steht, einverstanden wären. Insofern stößt Unmut, der in der Bevölkerung gegenüber der Politik entsteht, bei Politikern ganz oft auf vollständiges Unverständnis. Die Wähler fühlen sich hintergangen und machtlos, die Politiker fühlen sich im Recht, sie wurden schließlich gewählt. Es ist eine höchst unbefriedigende Situation.

Ich habe mich etwas mehr als zehn Jahre lang in diesem Geflecht aus Diskussion, Anträgen, Konferenzen, Parteitagen und Abstimmungen bewegt als Mitglied der Piratenpartei. Nachdem ich gleich zu Anfang, im März 2010, in ein Vorstandsamt gestolpert war, habe ich mich hauptsächlich organisatorisch betätigt – in der Piratenpartei hat ein Vorstand sich mit seiner Meinung zurückzuhalten. Bis 2018 hatte ich durchgehend Vorstandsämter inne, im Kreisverband, im Landesverband und auch im Bundesverband. Meine Aufgabe habe ich immer darin gesehen, den Mitgliedern der Parteibasis die Strukturen zu schaffen, innerhalb derer sie ihre Diskussionen ungestört führen, ihre Anträge formulieren und die notwendigen Informationen einholen können. Das ist mal mehr, mal weniger gelungen – vollumfänglich wird man das wahrscheinlich nie schaffen. Das wäre auch schlecht, denn unveränderliche Strukturen führen unweigerlich in die Versteinerung, insofern ist das ausgesprochen gut so.

Es waren sehr anstrengende Jahre und ich habe sehr viel Freude an der Parteiarbeit gehabt. In anderen Parteien, das weiss ich, sind die Strukturen deutlich starrer, von der Organisation der Arbeitsgruppen bis hin zu den Redelisten auf Parteitagen. Insofern bin ich dankbar, in so einem flexiblen Konstrukt gearbeitet zu haben. Von außen mag das chaotisch wirken, ich bin der Ansicht, dass das die einzige Möglichkeit ist, gesellschaftliche Veränderungen wahrzunehmen und mitzugehen. Meine Begeisterung für die Piratenpartei, so sehr ich manchmal auch schimpfe, hat also nicht nachgelassen.

Trotzdem ist der parteipolitische Weg nicht mehr meiner. Ich habe zu viel mit mir selbst zu tun, mit meinem Leben, damit, wieder einmal Steine abzuklopfen und neu aufeinander zu legen, mir ein neues Haus für mein Leben zu bauen. Das kommt vor, wenn man, wie es bei mir der Fall ist, häufig mit Veränderungen konfrontiert wird, familiäre Verpflichtungen einhalten will und selbst immer wieder andere, neue Wege durchs Leben finden muss. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mit den relativ losen Strukturen in der Piratenpartei gut  zurechtgekommen bin.

Ich bin zum 31.12.2019 ausgetreten, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Wäre ich geblieben, ich wäre über kurz oder lang doch wieder in organisatorische Verantwortung gegangen, allein weil es mir Freude macht und es doch so einige Menschen in der Partei gibt, mit denen ich sehr gut und sehr gern zusammen arbeite. Mein politischer Einfluß auf die Partei war noch nicht einmal marginal – das war auch nie mein Anspruch. Mir war gute Zusammenarbeit über Flügel und Unterschiede hinweg wichtig. Ich bin froh, dass ich diese gut zehn Jahre in der Piratenpartei hatte. Ich habe ungeheuer viel gelernt, tatsächlich Freunde gefunden und auch dann Freude an der Mitarbeit gehabt, wenn ich das Gefühl hatte, mir würden mehr Steine in den Weg gelegt als notwendig.

Es ist Zeit, neue Wege zu gehen. Vielleicht engagiere ich mich irgendwann wieder politisch, eventuell in einer NGO – oder auch in einer Partei. Vielleicht gehe ich zu den Piraten zurück, wer weiß. Jetzt ist nicht die Zeit dafür. Ich wünsche den Piraten, vor allen Dingen unserem Europaabgeordneten Patrick Breyer, gutes Gelingen. Und: Ich bin nicht aus der Welt, Leute. Nur, weil ich den Verantwortungsklotz der Mitgliedschaft abgeworfen habe, heißt das nicht, dass ich ich nichts mehr mit den Piraten zu tun haben möchte.

Fortsetzung: Frauen und Politik

Neulich habe ich ja – eigentlich aus einem leicht verärgerten Reflex heraus – einen Blogbeitrag für Herrn Ramelow geschrieben. Er hat ihn gelesen, was mich sehr freut und seine Antwort seinerseits in einen Blogbeitrag („Keine Angst vor Parität“) gefasst, was mich noch mehr freut. Das Thema an sich ist aber noch nicht ausdiskutiert und so setze ich einfach mal an dieser Stelle fort.

Herr Ramelo schreibt sehr ausführlich über die Geschichte des Kampfs um Rechte, den Frauen führen mussten. Das ist alles sehr richtig und wir sollten uns immer an das erinnern, was für uns erkämpft wurde. Es gibt nicht viele Selbstverständlichkeiten. Ich selbst bin im Jahr 1965 geboren und habe beispielsweise den Streit um den Paragraphen 218 auf jeden Fall mitbekommen. Frauen haben sich in unserer Gesellschaft vieles erkämpfen müssen, was eigentlich selbstverständlich sein müsste und Marie Juchacz hatte sicherlich recht damit, dass die Frauen eigentlich keinen Dank schuldig sind, wenn ihnen Rechte zugestanden werden, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollten. Zumindest den Männern sind wir keinen Dank schuldig, die uns diese Rechte dann endlich eingeräumt haben.

Wem wir, die Frauen, die heute diese Rechte in Anspruch nehmen können, wirklich Dank schulden, das sind die Frauen, die das alles für uns durchgefochten haben. Und für uns gehen damit Verpflichtungen einher: Wir dürfen nicht auf der Stelle treten und wir dürfen uns nicht in eine passive Rolle drängen lassen. Die Herren der Schöpfung möchten gern mehr Frauen in der Politik? Ok, gern. Dann schlage ich vor, dass hinterfragt wird, warum tatsächlich deutlich weniger Frauen daran interessiert sind, sich (partei-)politisch zu engagieren. Parlamentarische und innerparteiliche Arbeit unterliegt ja immer einer gewissen Systematik. Vielleicht sind eher das die Schrauben, an denen man drehen muss, anstatt Vorschriften zu machen, die sich auf Anzahlen beziehen. Die Frage lautet also nicht „Wie können wir die Männer zwingen, mehr Frauen zuzulassen?“. Denn es ist ja nicht so, als ob scharenweise Frauen vorhanden wären, die gern Listenplätze, Vorstandsämter oder sonstige Partei- und Politikjobs haben wollen. Die Frage, die geklärt werden muss, ist die nach der Motivation von Frauen, sich politisch zu engagieren. Auf welchen Gebieten engagieren sich Frauen, wenn sie sich politisch engagieren? In welchen Zusammenhängen tun sie das? Ist die (partei-)politische Organisation, die Systematik, die hier gewachsen ist, Frauen abträglich? Welche Veränderungen braucht es, um mehr Frauen in Parlamente und politische Organisationen zu bringen? Wenn wir schon in diesen Bahnen denken müssen (was ich nicht gern tue), dann sind das Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor überhaupt über Quoten geredet werden kann. Das wäre in meinen Augen fortschrittlich: Das bestehende System auf Fehler prüfen und diese Fehler zu bereinigen, anstatt es beizubehalten und nur mit einer Quote neu anzumalen. Zumindest dann, wenn wir ausschließlich binär denken, im Sinne von „es gibt Männer und Frauen und sonst nichts“.

Wirklich progressiv ist aber meiner Ansicht nach neben der Überprüfung unseres politischen Systems vor allem die Anerkennung der Tatsache, dass wir (und hier wiederhole ich mich) vorwiegend an dem Menschenbild in unserer Gesellschaft arbeiten müssen. Menschen sind zunächst vor allen Dingen einmal Menschen, das ist der gemeinsame Nenner. Unsere Gesellschaft arbeitet meiner Überzeugung nach viel zu intensiv an Trennung und Abgrenzung. Es bilden sich – vor allem in linken Gefilden, bedauerlicherweise – immer mehr Grüppchen, die ihre Sichtweise als die jeweils einzig Wahre betrachten. Wer anderer Ansicht ist, ja, wer auch nur der Ansicht ist, dass etwas nicht so funktionieren wird wie vorgeschlagen, der sieht sich sehr schnell unterirdischen Vorwürfen ausgesetzt. So werden die Gemeinsamkeiten der Menschen innerhalb der Gesellschaft immer weniger, es gibt immer mehr, was spaltet (letztlich tut die Aufteilung von zu repräsentierenden Menschen in Mann und Frau das ja auch). Es reicht nicht mehr, Feministin zu sein, nein: Man muss das auch auf die richtige Art und Weise sein. Ich bin an dieser Stelle froh, dass mir von Herrn Ramelow zugestanden wird, dass ich meine Ansicht habe, auch wenn er sie nicht teilen kann. Das ist absolut ok, damit kann ich fabelhaft leben.

Nichtsdestoweniger greifen Quoten meiner Ansicht nach grundsätzlich zu kurz und erziehen in die falsche Richtung. Ich fühle mich dabei, als würde mir die Fähigkeit aberkannt, für mich und meine Bedürfnisse einzustehen. Ich werde in einen geschützten Raum getrieben, in dem ich mich mit mit denen befinde, die von außen als meinesgleichen definiert werden, anstatt im allgemeinen Raum mit allen zu sein. Warum traut man mir, warum traut man das den Frauen nicht zu? Warum meint man, uns da helfen zu müssen – und dann auch noch auf diese Weise? Sorry, es ist einfach nicht mein Weg.

Zusammenfassend: Lasst uns doch einfach einmal anerkennen, dass die Menschen nicht einfach so in Mann/Frau-Kategorien einzuteilen sind. Sicher gibt es – speziell mit Blick auf die Familienpolitik – da geschlechtsspezifische Probleme, die zu lösen sind. Das rechtfertigt aber keinesfalls eine solche Einschränkung wie es diese „Paritätsgesetze“ nun einmal sind. Und sie werden der Gesamtheit der Frauen ebensowenig helfen wie die Frauenquote in Führungspositionen der Friseurin oder der Automechanikerin helfen wird. Die Quote trennt, sie sorgt für Hervorhebung von Unterschieden. Ich finde, wir sollten daran arbeiten, unsere Gemeinsamkeiten zu stärken. Lasst uns doch bitte da mal drangehen – zusammen.

Unter der Gürtellinie…

Bodo Ramelow, der Ministerpräsident Thüringens, ist mir eigentlich sehr sympathisch. Deswegen nehme ich mir heute mal die Zeit für einen etwas längeren Widerspruch auf einen Tweet, der mich neulich doch ein wenig geärgert hat:

Der Vergleich mit der AfD ist dann doch arg weit unter der Gürtellinie, lieber Herr Ramelow. Sicher, wir werden immer wieder mal bezichtigt, auf Frauen nicht genügend Rücksicht zu nehmen, nicht attraktiv genug für Frauen zu sein, eine reine Männerpartei zu sein. Nachdem wir in unserer Mitgliederdatenbank das Geschlecht der Mitglieder nicht erfassen (was geht das die Mitgliederverwaltung auch an?), kann ich Ihnen noch nicht einmal sagen, ob wir tatsächlich weniger Frauen unter unseren Mitgliedern haben als andere Parteien. Was ich weiß: Die Frauen in der Piratenpartei wissen, was sie wollen. Sie überlegen sich, ob sie einen Posten übernehmen oder für ein Mandat kandidieren möchten. Sie denken darüber nach, ob sie die Zeit und die Nerven haben, sich das anzutun. Und sie sagen auch sehr deutlich, innerhalb welchen Rahmens sie für die Partei tätig werden können.

Vielleicht liegt das daran, dass die Piraten es sich einfach nicht leisten können, für den Lebensunterhalt ihrer Vorstandsmitglieder oder Mandatsbewerber aufzukommen. Wir haben ein paar Angestellte, ja. Buchhaltung, IT und Geschäftsstelle wären ohne sie nicht zu bewältigen. Im Gegensatz zu den sogenannten „Volksparteien“ sind unsere Vorstände bis hoch zum Bundesvorstand aber ehrenamtlich tätig und bekommen nur ihre Reisekosten ersetzt.

Unter diesen Bedingungen kann einen so ein Parteijob – vor allem, wenn es darum geht, sich um ein Mandat zu bewerben – an den Rand der körperlichen, nervlichen und auch finanziellen Belastbarkeit bringen. Sicher, so ein Mandatsbewerber hat Anspruch auf unbezahlten Urlaub, um seinen Wahlkampf in Ruhe führen zu können. Das Problem ist das mit dem „unbezahlt“. Die Rechnungen flattern ja weiter ins Haus, die Ernährungslage muss weiterhin gesichert bleiben und wenn man unterwegs ist, reichen 24 Euro am Tag für Frühstück, Mittag- und Abendessen nur sehr knapp aus. Die erste Hürde, die zu nehmen ist, ist also eine finanzielle Hürde. Ich versichere Ihnen, lieber Herr Ramelow: Die Frauen in der Piratenpartei können rechnen. Und wenn sich eine entschließt, trotzdem zu kandidieren, dann tut sie das im Wissen darum, dass sie in diese Partei investiert ohne eine große Chance auf Erfolg und damit Kompensation. Das muss man leisten können. Unsere einzige weibliche Kandidatin für den Europawahlkampf, Sabine Martiny, hat sowohl zeitlich als auch finanziell den Rücken frei genug, um sich auf dieses Abenteuer einzulassen – und hat es genau deswegen auch getan.

Ich selbst wurde durchaus auch gefragt und habe abgelehnt. Die Gründe sind recht einfach: Ich habe von 2010 bis 2018 Vorstandsämter auf Kreis-, Landes- und Bundesebene innegehabt und diese Ämter so gut ausgefüllt wie ich irgend konnte. Ich habe 2013 für den Landtag in Bayern kandidiert (auf Listenplatz 4) und 2018 für den Bezirkstag Mittelfranken. Das alles habe ich sehr gern für meine Partei getan (und auch ein wenig für mich). Ich habe Infostände betreut, mir den Mund in Fetzen geredet, diskutiert und durchaus auch Menschen von unseren Inhalten überzeugt. Insofern habe ich mir nichts vorzuwerfen und finde, ich habe eine Pause verdient. Es gibt einige Parteikolleginnen, denen es genauso geht.

Es geht mir auch ziemlich auf die Nerven, dass regelmäßig ignoriert wird, dass wir durchaus sehr viel weibliches Führungspersonal aufzuweisen hatten und auch heute noch haben. Ich denke, Sie sollten dann schon mal wissen, wovon wir reden, wenn wir sagen, dass wir wirklich keine Quoten brauchen, herzlichen Dank. Der ganz überwiegenden Mehrheit meiner Parteikolleginnen ist es deutlich lieber, wegen ihrer Kompetenz gewählt zu werden als ihres Geschlechts wegen. So viel zum Thema „Frauen in der Piratenpartei“.

Nun noch allgemein zum Paritätsgesetz, das zwei wirklich schwere Fehler hat: Erstens werden innerhalb von Parteien voraussichtlich Frauen gedrängt, zu kandidieren – von Männern, die gerne einen Listenplatz haben wollen. Zweitens zementiert es eine sehr binäre Sichtweise. Wenn wir schon über Geschlechter reden, sollten wir uns vor Augen halten, dass es eben doch mehr als zwei Geschlechter gibt.

Aber ich denke, wir sollten über Menschen reden. Denn in unseren Parlamenten, möchte ich von Menschen vertreten werden, die eben auch kompetent sind in dem, was sie tun. Menschen, die nicht für 150 Millionen Euro im Jahr Berater brauchen und dann doch nichts richtig machen können. Menschen, die wissen, dass wir uns mitten in einem Umbruch befinden, der Arbeit vollkommen neu definieren wird. Menschen, die wissen, dass das brandgefährlich ist, dass das bittere Armut nach sich ziehen kann. Menschen, die wissen, was Meinungsfreiheit wert ist und nicht Schwächere für ihre unlauteren Zwecke missbrauchen. Menschen, die wissen, dass es die totale Sicherheit nicht gibt. Menschen, die wissen, dass Freiheit das höchste Gut ist, das wir überhaupt haben. Die sich kundig machen, technisch wie gesellschaftlich. Und diese Menschen dürfen dann auch sehr gern Piraten sein – wie Ute Elisabeth Gabelmann, ihres Zeichens Stadträtin der Piraten in Leipzig, die ich hier zitiere, weil sie genau das ausdrückt, was ich meine:

So, Herr Ramelow. Und jetzt wäre ich sehr dankbar, wenn Sie zukünftig von Totschlagvergleichen wie dem oben angeführten absehen könnten und zukünftig auch mal denen zuhörten, die Sie nicht vertreten können – aus Mangel an Geschlechtsorganen – anstatt nur auf eine kleine Teilmenge zu hören. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, denn vieles, was Sie sagen und tun, finde ich durchaus lobens- und bedenkenswert.

Tätigkeitsbericht

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Am 22.10.2017 stand ich in Regensburg auf der Bühne und habe gesagt, dass ich das Folgende tun möchte:

Organisation von vier Programmkonferenzen

Drei dieser vier Konferenzen haben wir durchgeführt, bei zweien war ich anwesend. Die Beteiligung war mäßig bis beschämend, nichtsdestoweniger wurde auf diesen Konferenzen intensiv gearbeitet. Wichtig war hier zunächst einmal nicht, etwas Neues zu erarbeiten, sondern das Vorhandene durchzuarbeiten. Das Ergebnis war, dass das Programm der Piratenpartei Redundanzen und Widersprüche enthält, die bereinigt werden sollten.
Eigentlich hätten hierzu noch Mumbletreffen stattfinden sollen; diese zu organisieren habe ich leider nicht geschafft. Das tut mir leid.
Die schriftliche Diskussion fand ab der zweiten Konferenz im Discourse statt. Die entsprechenden Diskussionsstränge hierzu sind dort auch nachzulesen.

Letztlich kann ich zusammenfassend sagen, dass das Interesse der aktiven Piraten an der Beschäftigung mit dem vorhandenen Programm doch sehr mäßig zu sein schient, wenn man in Betracht zieht, dass alle Termine Anfang des Jahres im Team PolGef-Mumble bekannt gegeben wurden. Ich hoffe, dass in Zukunft hier deutlich mehr Interesse herrschen wird, denn ein aufgeräumtes, übersichtliches Programm wird sicher dazu beitragen, sichtbar zu machen, wofür die Piraten stehen.

Die vierte Programmkonferenz wird noch stattfinden vom 23. bis 25. November des Jahres; hier findet gleichzeitig auch noch ein Treffen der Landes- und Bundes-IT statt. Ebenfalls wird es dort auch eine Fortbildungsveranstaltung der SG innerparteiliche Bildung geben zum Thema „Die politische Ökonomie des Kapitalismus für Einsteiger“.

Nachwuchsförderung

Das nächste, was ich in Angriff nehmen wollte, war die Förderung des Nachwuchses. Das ist leider etwas, was mir in keiner Weise gelungen ist; zwar war ich auf der Bundesversammlung der Jungen Piraten und habe mich auch auf dem Bundesparteitag mit einigen jungen Parteimitgliedern aus Sachsen unterhalten – dabei ist es aber leider geblieben.

Weitere Tätigkeiten

Ich hatte von vornherein gesagt, dass ich nicht viel Zeit in die Partei investieren kann und mich in der Folge nicht mit der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit befassen wollte. Ich habe darauf bestanden, dass Lily das übernimmt, weil sie tatsächlich weiß, wie es geht – letztlich war in Sömmerda ja auch der MDR vor Ort und das wirklich nicht ohne Grund; das ist nur ein Beispiel dafür, dass Lily hier wirklich einiges erreicht hat.
Ich habe Lily am Anfang unserer Amtszeit in diesem Geschäftsbereich unterstützt; was wir vorgefunden haben, war ein vollkommen verlottertes Versandtool, in dem die unmöglichsten Kontakte in den einzelnen Kontaktkategorien vorhanden waren. Allein das hätte deutlich gepflegter sein müssen. Die Pressemeldungen waren sämtlich nicht übermäßig hilfreich. Letztlich muss man sagen, dass in diesem Bereich der Pressearbeit die Piratenpartei den Tagesereignissen hinterherlief. Eigene Themen wurden so gut wie nicht platziert. Die Meldungen an sich waren mittelmäßig formuliert, schwunglos, meistens zu lang, dafür wurden dann auch viel zu häufig Meldungen verschickt, die keinerlei Nachrichtenwert hatten. So haben wir uns an die Veränderung gemacht.

Das haben wir bedauerlicherweise nicht unmäßig geschickt getan, das sei zugestanden. Wir haben gerade in diesem Bereich einige Leute vor den Kopf gestoßen, weil wir tatsächlich Geschwindigkeit vor Freundlichkeit und Dank gesetzt haben. Das tut mir sehr leid und ich entschuldige mich bei denjenigen, die darunter gelitten haben ebenso wie bei allen Parteimitgliedern. Das hat nämlich dazu geführt, dass das Erstellen von Pressemeldungen in eine Art Kampf ausgeartet ist, von dem sich das Team bis jetzt noch nicht erholt hat. Das hätte nicht sein dürfen und nicht sein müssen, es war ein kapitaler Fehler.

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit besteht aber nicht nur aus dem Verfassen von Pressemeldungen, sondern vor allem darin, Kontakt zu Pressevertretern aufzunehmen und zu halten. Hier gab es für uns leider praktisch nichts zu übernehmen, also musste Lily hier bei Null anfangen. Das ist häufig so, wenn ein Wechsel stattfindet, denn niemand, der Pressekontakte hat, wird diese so einfach weitergeben. Hier hat Lily vorhandene Kontakte gepflegt und neue aufgebaut. Im Rahmen des Möglichen hat sie hier ausgezeichnete Arbeit geleistet.

Öffentlichkeitsarbeit ist vor allem Da-Sein; auch hier ist Lily zu loben, denn sie war auf einigen Events und hat dort einen doch sehr guten Eindruck für unsere Partei hinterlassen. Es ist also, wie es immer ist: Vieles ist nicht sichtbar, es hilft aber trotzdem. Ich bitte sehr, diese Punkte bei der Beurteilung unserer Politischen Geschäftsführerin zu berücksichtigen.

Im Sommer habe ich eine mehrwöchige Pause einlegen müssen und ab September den Großteil meiner Tagesaufgaben wie die Leitung des wöchtentlichen Team PolGef-Mumbles und des im zweiwöchigen Turnus stattfindenden Montagsmumbles des Bundesvorstands niedergelegt. Für letzteres lag der Grund in den Ereignissen rund um einen Tweet unserer Politischen Geschäftsführerin, der mindestens ungeschickt zu nennen ist.
Wenn hier jetzt aber jemand glaubt, dass ich ausschließlich aus Widerwillen gegen meine Vorstandskollegin den Hammer habe fallen lassen, dann irrt derjenige. Dass Lily ungeschickt twittert, wussten wir alle lange, bevor sie gewählt wurde. Sie selbst hat in ihrer Bewerbungsrede noch gesagt, dass sie daran nichts ändern wollen würde. Ich selbst war sicher nicht immer mit ihrer öffentlichen Kommunikation einverstanden, musste aber lernen, das hinzunehmen und notfalls auch damit zu leben, dass ich teils sehr emotional darauf angesprochen wurde. Das hat sehr viel Zeit und auch Kraft in Anspruch genommen, die ich für wesentlich Wichtigeres benötigt hätte.

Gerade der Tweet von Anfang September, der eine Kette von Ereignissen nach sich zog, die den Ruf der gesamten Partei nachhaltig zu schädigen geeignet waren, war aber einer, den man durchaus zum Wohle der Piratenpartei herunterkochen hätte müssen. Allein, einige Piraten, die bedauerlicherweise auch eine recht große Reichweite auf Twitter haben und zudem noch mit dem Journalisten, der angesprochen wurde, persönlich bekannt sind, haben sich entschieden, dies nun nicht hinzunehmen, sondern den Anlass zu nutzen, die politische Geschäftsführerin zwei Monate vor Ende ihrer Amtszeit lieber aus ihrem Amt zu drängen als einfach die beiden Monate abzuwarten und sich darauf zu konzentrieren, jemanden für das Amt zu gewinnen, der ihnen tatsächlich geeignet scheint.

So fanden meine Kollegen und ich uns in einer sehr unmöglichen Situation wieder. Insofern gilt mein Nicht-Dank für verfehlte Außenkommunikation im sozialen Netzwerk Twitter nicht nur, ja nicht einmal vorwiegend Lily, nein, er gilt auch Menschen innerhalb dieser Partei, die sich in einer durchaus herausgehobenen Position befinden und nichts besseres zu tun haben, als den Ruf der Partei zu beschädigen, um eine Person, die ihnen nicht passt, aus dem Amt zu entfernen.

Das war der Grund, aus dem ich dann, wie oben erwähnt, den Hammer habe fallen lassen; ich hatte schlicht kein Vertrauen mehr in die Menschen, mit denen ich vertrauensvoll zusammenarbeiten können muss, um meine Arbeit gut zu tun.

So blicke ich persönlich auf ein sehr durchwachsenens Jahr zurück, mit Trauer auf freundschaftliche Bande, die zerrissen wurden, mit Bedauern auf das, was ich nicht erreichen konnte und mit Freude auf das, was ich trotz aller Widerstände doch tun konnte.

Ich bedanke mich für das mir entgegengebrachte Vertrauen bei allen, die mich gewählt haben und bei denen, die eine gute Zusammenarbeit möglich machten, obwohl sie meinen Plänen misstrauisch gegenüberstanden.

Zum Schluss möchte ich noch an diejenigen erinnern, die mich immer gestützt und motiviert haben, leider aber nicht mehr bei uns sind: Michael Kittlaus, Michael Behrend und Klaus Sommerfeld. Ich bin unsagbar traurig, dass diese drei Piraten viel zu früh verstorben sind. Sie sind durch nichts und niemanden zu ersetzen und hinterlassen in meinem Leben eine große Lücke.