Welttag der Sozialen Gerechtigkeit

2009 haben die Vereinten Nationen den Welttag der Sozialen Gerechtigkeit eingeführt; er soll an das Leitbild der sozialen Gerechtigkeit der Gemeinschaften erinnern, nach dem die Verteilung der Güter den vorherrschenden ethischen Prinzipien entspricht. Vorgestern war es mal wieder so weit und irgendwie scheint das untergegangen zu sein. Hier dann also ein paar Gedanken dazu.

Die gute Frage ist, was soziale Gerechtigkeit denn so eigentlich ist, vor allem, wenn man sie weltweit betrachtet. Es gibt so viele Unterschiede, so viele verschiedene Ansichten darüber, was Gesellschaft ist und was Gerechtigkeit. Wenn wir uns US-amerikanische Krimis ansehen, dann kann Gerechtigkeit durchaus den Tod bedeuten – vor allem den derer, die vorher das Leben anderer genommen haben. Bringt die Todesstrafe aber wirklich Gerechtigkeit? Ich bezweifle das. Oder die indigenen Völker Amerikas: Welche Gerechtigkeit widerfährt denen? Sie haben vollkommen andere Vorstellungen von dem, was Gesellschaft ist, wie Zusammenleben funktioniert – und auch davon, was gerecht ist. Dafür wurden sie von der Entdeckung Amerikas an belogen, betrogen und ermordet. Sie wurden „bekehrt“, damit der christliche Glaube sie Demut lehre und dafür sorge, dass sie anerkennen, dass das Land in kleine Häppchen aufgeteilt und einzelnen Menschen als Eigentum zugesprochen werden kann. Ein Konzept, das ihrer Kultur vollkommen fremd war. Ebenso die Seßhaftigkeit, denn die Mehrheit der indigenen Völker waren Nomaden.

Die asiatische Kultur, je nach Zeitalter und Standort, ist uns hier im Westen fremd, so manches erscheint uns hoch kultiviert, anderes wieder barbarisch. Die Wurzel, aus der die heutige chinesische Regierung entspringt, ist genau diese, auch wenn wir das nicht anerkennen wollen. Die totale Überwachung der Menschen dort, das Vergeben von Punkten für Wohlverhalten mag dem einen Freiheit, dem anderen eine Fessel bedeuten.

Wir, der „Westen“, die wir uns hoch zivilisiert wähnen, leben auf Kosten derer, deren Arbeitskraft wir besonders billig bekommen können – für Fünf-Euro-T-Shirts und billige Leberwurst. Was also wäre soziale Gerechtigkeit?

Ich halte es da mit Friedrich dem Großen, auch wenn der mit dem folgenden Zitat „nur“ auf Religionsfreiheit abzielte:

In meinem Staate kann jeder nach seiner Façon selig werden.

In meinen Augen lässt sich das ganz gut auf alle Lebensbereiche ausdehenen. Jeder sollte und kann seine Kultur pflegen – solange er die anderen nicht einschränkt. Jeder sollte und kann seine Religion ausüben – solange er nicht anderen diese Religion aufoktroyiert. Jeder sollte und kann er selbst sein – solange er nicht anderen vorschreibt, so zu sein wie er.

Bei der Vielfalt an Kulturen, Religionen, Lebensentwürfen, Vorstellungen von Glück wird es schwierig, soziale Gerechtigkeit zu erreichen – es sei denn, wir würden tatsächliche Toleranz lernen. Mehrheiten, die einfach aushalten und anerkennen, dass es Minderheiten gibt; und umgekehrt. Dazu müssen wir zuvorderst lernen, nicht alles als „Haß“ zu bezeichnen, was eigentlich Unverständnis ist oder auch eine Grenze, die der Betreffende nicht zu überschreiten bereit ist. Wir müssen lernen, unsere Empörung auf ein sozialverträgliches Maß herunterzukochen und Entscheidungen zu treffen.

Oft genug passiert es, dass wir Gerechtigkeit mit anderen Dingen verwechseln: Wirtschaftlicher Status ist da ein gutes Beispiel. Ist es sozial gerecht, wenn wir einem afrikanischen Bauern denselben wirtschaftlichen Status wünschen wie uns selbst? Oder ist nicht etwa der Wunsch nach einem entbehrungslosen, zufriedenen Leben für diesen Bauern näher an sozialer Gerechtigkeit? Reichtum ist auf der einen Seite nicht alles, auf der anderen Definitionssache. Reichtum kann es auch sein, genug zum Leben zu haben und gleichzeitig das Leben genießen zu können. Dazu muss man nicht zweimal jährlich in Urlaub fahren, jedes Wochenende in die Disco (Verzeihung: in den Club) gehen und auch nicht jeden Tag ein deftiges Fleischgericht zu sich nehmen. Auskommen mit dem Einkommen, das tun zu können, was man tun möchte, mit den Menschen Zeit zu verbringen, die man liebt.

Aber einfach mal zurück in unser Land: Ist es gerecht, wenn die einen sich dem Kunstgenuss (inklusive Champagner) in der Elbphilharmonie hingeben und die anderen so wenig haben, dass sie noch nicht mal eine eigene Wohnung bezahlen können? Ist es gerecht, dass Eltern jeden Monat das Kleingeld abzählen müssen, damit ihr Kind zweimal im Monat schwimmen gehen kann? Sicher nicht.

Soziale Gerechtigkeit lässt sich meiner Ansicht nach nur räumlich begrenzt erreichen. Dazu sind die Wünsche und die Sehnsüchte der Menschen weltweit viel zu unterschiedlich. Es ist ehrenvoll, sich dafür einzusetzen, dass wir in unseren „zivilisierten“ Ländern für die Zwiebeln und den Kaffee genug bezahlen, um soziale Gerechtigkeit in den Herstellerländern zu ermöglichen. Wichtig ist, dass wir uns hier darum kümmern, dass die Menschen vor Ort soziale Gerechtigkeit erfahren – und das nicht nur wirtschaftlich. Zur Teilhabe an der Gesellschaft gehört die Anerkennung des Menschen so, wie er ist. Und das ist verdammt schwer, wenn uns andere Menschen fremd sind, sie anders reagieren als wir und sie anders aussehen als wir. Diese Unterschiede zu sehen und anzuerkennen ohne zu urteilen, das ist es, was wir zunächst anstreben sollten. Das ist meine Meinung. Die muss niemand teilen. Aber sagen muss ich sie jederzeit dürfen.

Geschlechtsfragen

Unter dem Hashtag #solidaritätmittessa wird auf Twitter die Diskriminierung von Transfrauen diskutiert. Anlass ist die Debatte zum internationalen Frauentag am 8. März. Im Rahmen der Debatte äußerte sich Frau von Storch in sattsam bekannter, wirklich diskriminierender Art und griff Tessa Ganserer, eine Abgeordnete der Grünen, massiv an – weil sie transgender ist.

Über Frau von Storch kann ich mich nicht mehr aufregen, dazu ist mir wirklich meine Zeit zu schade. Ja, ich weiß, eigentlich müsste ich mich hier länglich über die Gülle auslassen, die sie über dem Haupte all derer auskippt, die nicht ihrer Meinung sind. Ich lasse es. Dazu gibt es im Internet genug zu lesen und ich will dieser Frau nicht mehr Raum bieten als sie sowieso schon hat.

Dummerweise habe ich meine Probleme mit einem hartgesottenen Grüppchen vorwiegend biologisch und sozial weiblicher Kämpfer für soziale Gerechtigkeit, die das soziale Geschlecht nutzen, um Keile zu treiben – und bin deswegen mal wieder auf mich selbst reingefallen. Anlass war ein Tweet mit folgender Aussage:

Ich soll einen biologischen Mann als Frau bezeichnen, gleichzeitig soll ich mich als ‚Mensch mit Uterus‘ bezeichnen lassen und akzeptieren, dass Menschen mit Penis in Frauenschutzräume eindringen dürfen.
Einfach nur noch ‚Nein‘

So wird das nix.

#SolidaritaetMitTessa

Zugegeben, ich hatte mich mit dem Problem, das die Äußerungen über Tessa Ganserer erzeugt hatte, nicht wirklich beschäftigt, hatte auch die Debatte im Bundestag zu dem Thema weitgehend ignoriert. Das war ein Fehler, vor allem, was den Retweet anbelangt. Fangen wir also mit der Ecke an:

Liebe Frau Ganserer, es tut mir wirklich leid, wenn der Eindruck entstanden sein sollte, dass ich die Identität, die Sie für sich gewählt haben, nicht anerkennen würde. Das ist ganz bestimmt nicht der Fall. Mich regt etwas ganz anderes auf.

Und jetzt zum aufregenden Teil der Geschichte:

Ich oute mich jetzt mal als sprachlich konservativ. Das heißt, dass ich keinen Sinn darin sehe, die Sprache als Veränderungsmechanismus für gesellschaftliche Probleme zu nutzen. Dass ich damit zwar nicht ganz allein, aber auch nicht unbedingt in der Überzahl bin (vor allem in sozialen Medien), ist mir klar. Grundsätzlich ist mein Motto „Leben und leben lassen“ – wer findet, dass es ihn (oder sie) weiterbringt, wenn Wörter Binnen-Is, Gendersternchen oder sonstige Sonderzeichen enthalten, die dafür sorgen, dass sich alle mitgemeint fühlen, soll das halt machen. Ich muss ja nicht lesen, was diese Menschen schreiben, insofern ist das schon ok. Das einzige, was mich daran wirklich stört, ist die fehlende Rücksichtnahme auf Menschen mit Behinderungen, beispielsweise Blinde und Legastheniker, die damit nicht unbedingt gut zurechtkommen. Das habe ich schon oft angesprochen, wurde deswegen auch oft frauenfeindlich oder queerfeindlich genannt – nun, dann ist das so. Ich finde es rücksichtslos, auf Kosten einer Gruppe auf eine andere Rücksicht zu nehmen. Wenn das „feindlich“ sein soll, ja, dann bin ich wohl „feindlich“. Ich selbst schreibe und spreche meistens mit dem generischen Maskulinum, wenn ich alle meine. Das muss niemand akzeptieren, das darf gerne angeprangert werden, für mich ist es die einfachste Methode.

Neuerdings hat man sich im ZDF wohl auch darauf geeinigt, das Binnen-I (oder den Genderstern, wie auch immer) mitzusprechen. Für mich hört sich das an, als hätte der Sprecher (bzw. die Sprecherin) Schluckauf. Ich stolpere regelmäßig darüber und hänge dann dem, was mir vermittelt werden soll, ein Stück hinterher. Aber auch hier: Ich muss ja nicht. Vielleicht gewöhne ich mich ja auch irgendwann daran. Heißt: Es stört mich, sicherlich. In der Aufnahme von Informationen, im Lesefluß. Manchmal nervt es mich. Normalerweise lasse ich die Leute, aber wenn mich das zum Feind macht, siehe oben.

Wofür ich kein Verständnis habe, sind Toleranzforderungen, die an mich herangetragen werden (ebenfalls aus sozialen Medien heraus). Es gibt einfach Toleranzen, die ich nicht leisten kann. So wurde mir erklärt, dass ich mit einer Frau, die sich als Mann definiert, sexuellen Umgang haben müsste, weil ich sonst transfeindlich wäre. Nun, ich bin definitv heterosexuell und auch etwas prüde. Das bedeutet, dass ich eben nicht mit jedem Sex haben möchte, der mir so über den Weg läuft. Voraussetzungen für Sex sind bei mir Liebe und Vertrauen. Sehr großes Vertrauen, übrigens. Das bedeutet, dass ich noch nicht mal mit jedem biologischen Mann, der sich als solcher definiert, Sex haben möchte. Die Anzahl dieser Männer ist tatsächlich ausgesprochen klein (derzeit liegt sie bei 0). Und mit wem ich Sex habe, geht eigentlich auch keinen etwas an. Würde mich jetzt also ein Transmann zum Sex bewegen wollen, würde der vermutlich auf Granit beißen. Das hat mit Trans oder nicht Trans nichts zu tun. Es hat was damit zu tun, dass Vertrauen aufgebaut werden muss und das geht nicht im Verlauf eines Kneipengesprächs.

Insgesamt ist Sex – und damit das biologische oder soziale Geschlecht – meiner Mitmenschen größtenteils vollkommen uninteressant. Viel wichtigere Fragen sind: Mag ich diesen Menschen? Kann ich mit diesem Menschen gut zusammenarbeiten? Verstehe ich mich mit diesem Menschen gut? Und da ist sowohl Sex als auch Geschlecht ein vollkommen nachrangiger (um nicht zu sagen irrelevanter) Aspekt.

Was mich ebenfalls nervt, ist die Forderung, dass Transfrauen, die einen Penis haben, gefälligst Fraueneinrichtungen benutzen zu dürfen haben. Ich kann es verstehen, habe aber ein Problem: Trigger. Wenn ich in die Sauna gehe, weiß ich, dass da auch Männer (will heißen: Menschen mit Penis) sind. Ich bin vorbereitet, ich weiß das, alles gut. Wenn eine Transfreundin mit mir ins Schwimmbad ginge und wir in die Dusche gingen, wäre das für mich (bei anderen mag das anders sein) auch kein Problem. Ich weiß, dass sie einen Penis hat, ich bin vorbereitet. Wenn ich aber unvorbereitet in einem Schutzraum für Frauen einem Menschen mit Penis über den Weg liefe, würde es mich erst einmal von den Füßen holen, denn das ist ein Trigger. Ich bin damit ziemlich sicher nicht allein. So, und was machen wir jetzt? Wenn Duschkabinen vorhanden sind und man seine körperliche Reinigung in Abgeschiedenheit erledigen kann, wäre das für mich völlig okay. Nur plötzliche Begegnungen sind halt nichts, womit ich klarkomme. Wen trifft das schlimmer – mich oder die Transfrau, die sicher nicht vorhat, mich zu triggern? Und wenn Transfrauen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen in die Herrendusche gezwungen werden, was passiert ihnen dann? Will ich daran schuld sein, dass sie dort getriggert werden? Sicher nicht. Das Problem ist also vielschichtiger als man auf den ersten Blick meinen sollte.

Und dann sind da auch noch diejenigen, die von Menschen mit Uterus, von Cervixbesitzerinnen und dergleichen reden. Das ist sicherlich gut gemeint. Soweit ich bisher sehen kann (ich habe jetzt nicht nachrecherchiert) sind die meisten dieser Leute Frauen. Es gibt dann auch noch Männer, die solche Geschlechtsteile ihr eigen nennen, sicher, und es gibt auch intersexuelle Menschen, ja, klar. Aber die meisten von uns sind eben nicht nur Besitzerinnen weiblicher Geschlechtsmerkmale, sondern in der Tat Frauen. Und mein Problem besteht, wenn ich mich nicht mehr Frau nennen soll, weil ich damit einen Transmann diskriminieren könnte. So weit geht die Liebe dann nicht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Transmänner das von mir verlangen würden. Meiner Erfahrung nach sind die, die das tun, größtenteils mit dem Geschlecht zur Welt gekommen, mit dem sie sich auch identifizieren und durchaus heterosexuell. Das ist aber nur meine Erfahrung, es mag auch alles ganz anders sein.

Zusammenfassend: Das Geschlecht anderer Leute interessiert mich im Alltag nicht und ich halte Leute wie die eingangs erwähnte Frau von Storch, die sich darüber Gedanken machen zu müssen meinen, für armselige Tröpfe. Mein Geschlecht hat im Alltag niemanden zu interessieren, ebensowenig meine sexuellen Vorlieben. Wichtig ist, wie gut wir uns verstehen, ob wir gut miteinander umgehen können und wie wir zusammenarbeiten. Das macht soziales Miteinander aus. Wenn mich das trans- oder queerfeindlich macht, dann ist das eben so.

Internationaler Tag gegen Genitalverstümmelung

Rasierklinge mit Blut

Vorneweg: Bei diesem Tag geht es um die „Beschneidung“ weiblicher Genitalien, die diverse Ausprägungen haben kann. Das zieht nach sich, dass viele Männer, denen aus religiösen oder kulturellen – also nicht medizinischen – Gründen die Vorhaut entfernt wurde, jedes Jahr wieder darauf aufmerksam machen, dass ihnen hier auch ein Trauma und ein Unrecht zugefügt wurde. Das ist richtig, aber es gibt Unterschiede. Fangen wir also mit den Frauen an, die haben heute einfach Vorrang.

Laut WHO gibt es vier Typen der Genitalbeschneidung bei Mädchen bzw. Frauen. Allen ist gemeinsam, dass Schleimhäute in der Vagina ganz oder teilweise entfernt werden; oft wird die Klitoris ganz oder teilweise entfernt. Männer können sich das ungefähr so vorstellen, als ob nicht nur die Vorhaut beschnitten würde, sondern auch gleich die Eichel ganz oder teilweise entfernt würde. Ich gehe jetzt nicht weiter auf die einzelnen Methoden ein, dazu gibt es genügend Quellen im Internet, die man in Suchmaschinen mit den Suchwörtern „Beschneidung“ und „Frauen“ findet.

Was erschreckend ist, ist die Tatsache, dass gut 80% der Beschneidungen von Menschen durchgeführt werden, die keinerlei medizinische Ausbildung haben. Auch Hygiene ist hier keinerlei Kriterium, ebensowenig Narkose. Werkzeuge sind Messer, Rasierklingen, Scheren, Glasscherben und ähnliches. Das Werkzeug wird weder desinfiziert noch wird es gereinigt, wenn es vorher bereits für die Beschneidung eines anderen Mädchens benutzt wurde. Das führt zur Übertragung von Krankheiten und Infektionen. Die Wunde wird dann mit Akaziendornen, Bindfäden, Tierdarm, Eisenringen oder ähnlichem verschlossen und mit Mitteln wie Asche, Kräutern, Pflanzensäften oder Blättern versorgt, um die Blutung zu stoppen.

Neben der langfristigen Einschränkung des sexuellen Empfindens sind hier vor allem Sepsis, Fisteln, Zysten, Infekte des Harntrakts und Störungen der Blasenentleerung Komplikationen, die erwartet werden können. Zudem sind Mädchen vom Kleinkindalter bis in die Pubertät betroffen. Das Trauma, das eine derart schmerzhafte Prozedur erzeugt, ist kaum zu ermessen.

Langfristige Komplikationen ergeben sich vor allem bei den dann erwachsenen Frauen, denn der Geschlechtsverkehr ist oft sehr schmerzhaft und auch unter der Geburt gibt es vielfache Probleme, die ohne „Beschneidung“ nicht vorhanden wären.

Nun stehen Gesetzgeber und Gesellschaften vor demselben Dilemma, das es auch bezüglich der Beschneidung von Jungen gibt: Natürlich kann man das alles verbieten und unter Strafe stellen. Grundsätzlich sind medizinisch nicht notwendige Eingriffe in den Körper zu vermeiden. Das hält aber Menschen, die ihre Kinder aus traditionellen, gesellschaftlichen oder religiösen Gründen solch grausamen Prozeduren unterziehen, nicht davon ab. Der Grund ist, dass das eine gesellschaftliche Ächtung des Kindes oder gleich der ganzen Familie zur Folge haben kann. Man wird ausgestoßen aus dem sozialen Kreis, in dem man sich befindet. Das kann man eventuell in einer Großstadt hinnehmen, nicht aber in einem Dorf, in dem jeder jeden kennt und alle alles wissen. Und so ist die einzige Methode, die hier zur Verfügung steht, die Aufklärung. Die erweist sich aber als schwierig, denn Mythen leben entsetzlich lange und Menschen klammern sich an sie – das sehen wir derzeit auch sehr gut an der „Diskussion“ um Corona, Impfungen und weitere Maßnahmen.

Fest steht, dass eine Beschneidung, egal ob bei Mädchen oder bei Jungen, keinerlei hygienische Vorteile hat. Im Gegenteil: Jeder Eingriff birgt ein Infektionsrisiko, selbst wenn er unter sterilen Bedingungen im Krankenhaus von einem Arzt durchgeführt wird. Unter den oben beschriebenen Bedingungen ist das Infektionsrisiko kaum noch Risiko zu nennen – es handelt sich dabei eher um eine Infektion mit Sicherheit. Bei Mädchen besteht ein hohes Risiko, unfruchtbar zu werden. Außerdem sind natürlich Nierenschäden und schmerzhafte Infekte des Urogenitaltraktes an der Tagesordnung. Das Risiko, an der „Beschneidung“ zu versterben, ist für Mädchen ungleich höher als für Jungen, aber auch bei Jungen gibt es Komplikationen von Nekrosen über den Verlust des Penis bis hin zum Tod, ganz klar.

Insofern bitte ich alle Eltern, die darüber nachdenken oder sogar entschlossen sind, so eine Prozedur an ihrem Kind ausführen zu lassen: Lassen Sie es sein. Es ist einfach das Risiko nicht wert, egal, was die Gesellschaft, die Verwandtschaft, die religiösen Ratgeber sagen. Das Trauma, das entsteht, ist zu groß. Wenn Ihre Kinder erwachsen sind, können sie für sich entscheiden, ob sie so eine Prozedur an sich durchführen lassen wollen. So viel Zeit sollten sie ihnen geben.

Weltreligionstag

symbolbilder der Weltreligionen

Morgen ist Weltreligionstag. Das heißt, eigentlich heute, denn ich werde den Text, den ich heute schreibe, natürlich erst morgen veröffentlichen. Also ist heute Weltreligionstag. Ist ja eigentlich auch egal, aber ich weiß nicht recht, wie ich diesen Text anfangen soll, also rede ich erstmal ein wenig um den heißen Brei herum. Ja.

Dieser Weltreligionstag wurde 1950 durch die Nationale Geistliche Versammlung der Bahai der Vereinigten Staaten initiiert und wird seitdem jährlich gefeiert. Ja. Ich habe Fragen. Fangen wir mal mit der ersten an: Wer sind denn bitte die Bahai?

Ein gewisser Bahāʾullāh gründete das Bahaitum Mitte des 19. Jahrhunderts als universale Religion. Hehres Ziel ist, die Erde als „nur ein Land und alle Menschen seine Bürger“ zu betrachten. Die Religion ist monotheistisch, glaubt an einen allwissende und allliebenden Gott. Das ist übrigens das, was mir immer kalte Schauer den Rücken heruntergejagt hat: Gott weiß alles und sieht alles. Sozusagen permanente, totale Überwachung und wehe, du machst was, was Gott nicht passt, dann ist aber was los. Aber ich greife vor, bleiben wir noch kurz bei den Bahai.

Ich kann mich jetzt nicht hinsetzen und das ausrecherchieren, aber mir scheint, dass diese Religion ihre Gläubigen relativ wenig einschränkt; sie sieht Gott als den übergreifenden Gott aller Weltreligionen. Ähm, ja, hier würde es wirklich zu kompliziert. Meine Einschätzung: Schöne Idee, aber das klappt nicht.

Religion generell ist etwas, was ich allen Menschen, die glauben können, von Herzen gönne. Glaube gibt, wenn richtig praktiziert, Hoffnung und er erdet auch. Religion dagegen ist der äußere Rahmen, der sich tatsächlich als haltgebend erweisen kann, aber eben auch als eine Art Gefängnis. So bin ich regelmäßig wirklich enttäuscht von der Übergriffigkeit und der Engstirnigkeit der Religionen. Statt Liebe als solche zu sehen und anzuerkennen, werden Homosexuelle bestraft – bestenfalls mit Ave Maria und Vaterunser, schlimmstenfalls mit dem Tod. Je nach Religion und radikaler Ausübung durch den jeweiligen Klerus. Wie soll ich solche Leute ehren?

Gerade im Christentum tropft die Moralinsäure nur so von den Kanzeln – ich rede nicht vorwiegend von Deutschland, aber sicherlich auch. Da wird Sex als etwas ungebührliches, unerwünschtes, ja ein simples Mittel zum Zweck angesehen. Das darf bloß keinen Spaß machen, um Himmels willen. Der einzige Grund für Sex ist das Zeugen von Kindern. Wehe dem, der da versucht, eine Schwangerschaft zu verhüten! Wenn Sex, dann ohne Netz und doppelten Boden, Kinder sollt ihr zeugen, egal, ob ihr sie ernähren könnt oder nicht. Der Herr wird sich schon kümmern.

Und wenn gesichert ist, dass ein Kind die Geburt nicht überlebt? Kommt drauf an. In Polen hat 2020 das Verfassungsgericht entscheiden, dass auch diese Kinder ausgetragen werden müssen. Der Präsident erklärt, warum: Damit diese Kinder wenigstens im katholischen Sinne getauft und beerdigt werden und einen Namen bekommen können. Dafür müssen sich also Mütter durch eine Schwangerschaft quälen, die sicher mit dem Tod des Kindes endet. Dafür müssen dann auch die Kinder leiden und sterben. Ja, sehr christlich.

Ich äußere mich jetzt nicht über andere Religionen, obwohl ich das könnte. Nur so viel: Es ist mit Sicherheit nicht Gott, der will, dass Neugeborene, Kleinkinder oder Kinder in der Vorpubertät chirurgischen Eingriffen ausgesetzt werden, die übelste gesundheitliche Auswirkungen haben können oder sogar zum Tod führen. Es ist unter Garantie nicht Gott, der Paare (ob verheiratet oder nicht) gängelt und ihnen vorschreibt, wie sie ihre Sexualität zu leben haben. Es ist bestimmt nicht Gott, der will, dass Frauen für jeden Schritt, den sie tun, ihren Mann um Erlaubnis bitten müssen und es ist nicht Gott, der Kindern, speziell Mädchen, Bildung verweigert. Nein, das sind Menschen, und zwar solche, für die es praktisch ist, andere Menschen mit diesen Moral“gesetzen“ im Griff zu halten.

Wenn wir Kinder Gottes sind, dann können wir uns in Zuneigung umeinander kümmern, ohne körperliche und soziale Einschränkungen hinzunehmen. Und wir wachsen vermutlich wesentlich liebevoller und unbeschwerter als Gesellschaft zusammen.

In diesem Sinne: Liebe Religiöse, lebt gerne euere Religion; aber zerreißt dieses Netz aus Vorschriften, Vorurteilen, Verboten und Geboten. Vielen Dank.

Hausfrauentag

Hausfrau auf dem Balkon beim Wäsche aufhängen

Der kleine Kalender teilt mir mit, dass heute der Hausfrauentag ist. Hausfrauen sind Menschen, die immer noch mit der Arroganz der arbeitenden Bevölkerung leben müssen, weil sie ja „nichts tun“. Gut, es ist nicht die gesamte arbeitende Bevölkerung und es ist auch richtig, dass es Hausfrauen gibt, die tatsächlich nichts tun. Trotzdem sind da einige Vorurteile eingefahren, über die wir reden müssen – einerseits der Hausfrauen wegen, andererseits wegen der Frauen, die nicht zuhause bleiben wollen oder können.

Das Hausfrauendasein fängt üblicherweise harmlos an. Oft genug mit Heirat. Heiraten, verstehen Sie mich nicht falsch, ist schön. Es ist wunderbar, einen Menschen zu haben, auf den man sich so rückhaltlos verlassen kann, dass man ihm verspricht, immer für ihn da zu sein, komme, was da wolle. Und es ist so schön, selbst dieses Versprechen zu geben und die ganze Hoffnung und den Optimismus zu leben, die mit diesem Versprechen einhergehen. Die meisten Hausfrauen bleiben nicht direkt nach der Heirat zuhause, sondern erst, wenn das erste Kind da ist.

Was tut eine Hausfrau? Nun, sie verrichtet all die niederen Dienste, die von unserer Gesellschaft wirklich schlecht bezahlt und auch wenig gewürdigt werden. Jeder möchte sich gerne in einer sauberen Dusche waschen, niemand hat Lust, sie zu putzen. Jeder möchte gern drei Mahlzeiten täglich serviert bekommen, niemand hat Lust, sie zuzubereiten. Alle wollen die schöne Aussicht genießen, niemand mag die Fenster putzen. Hausfrauen organisieren die Familie, sorgen für saubere Wäsche, frisch bezogene Betten, saubere, aufgeräumte Wohnungen, warme und kalte Mahlzeiten, gepflegte Gärten, sie pflegen die kranken Familienmitglieder, sorgen dafür, dass alle pünktlich da sind, wo sie sein sollen und alles dabei haben, was sie brauchen, ob Schule, Sportverein, Ballettunterricht, Schwimmstunden oder Arbeitsplatz. Ein Unternehmen, das Staubsauger herstellt, warb mal mit dem schönen Spruch „Ich leite ein gutgehendes kleines Familienunternehmen“. Wie wahr.

Der Job einer Hausfrau hat viele Facetten; für manches braucht man wenig bis keine Vorkenntnisse, für anderes wie beispielsweise die Beaufsichtigung der Hausaufgaben der Kinder, sollte man zumindest wissen, wie es geht. Die Kommunikation nach außen und innerhalb der Familie liegt meistens auch bei den Frauen, ebenso wie die Verwaltung des Budgets. Das ist alles nicht ohne. Hausfrauen tun also sehr vieles, was wir gerne übersehen oder als Selbstverständlichkeit hinnehmen. Viele von uns sind damit aufgewachsen und unsere Mütter haben uns im Idealfall nicht merken lassen, wie anstrengend und herausfordernd diese Arbeit ist. Nichtsdestoweniger hat die Tatsache, dass Hausfrauen für ihre Tätigkeit nicht bezahlt werden, bei ihren Ehepartnern mitversichert werden und für Kindererziehungszeiten nur Rentenversicherungspunkte während der ersten drei Lebensjahre der Kinder bekommen, den Wert von Frauenarbeit gegen Null gedrückt. Das ist falsch, so falsch.

Was ist denn ein sauberes Büro, ein hygienisch einwandfrei gewischter Krankenhausflur, ein sauberes Treppenhaus und eine spiegelblanke Teeküche so wert? Das werden wir erst erfahren, wenn wir es nicht mehr haben. Wann hat das Reinigungspersonal zuletzt gestreikt, um Arbeitsbedingungen oder Bezahlung zu verbessern? Frauenarbeit, wertlos, Kampf um Anerkennung sinnlos, so sieht es aus. Was ist die Nachhilfe für das Kind, das Probleme in Mathemathik hat, wert? Warum werden Kindergartentanten, Hortpersonal und Grundschullehrer so schlecht bezahlt? Was macht die Arbeit der Gymnasiallehrerin wertvoller?

Wenn wir denen, die klassische „(Haus-)Frauenarbeit“ tun, das bezahlten, was sie wirklich wert sind, wir würden arm dabei. Und so leben tausende von Hausfrauen damit, dass sie nicht bezahlt werden für einen 24/7-Arbeitsplatz ohne Aussicht auf Verbesserung, Sekretärinnen, Friseurinnen, Reinigungskräfte, Servicepersonal, Verkäufer, Pflegekräfte müssen damit leben, dass ihre Arbeit nicht viel wert ist.

Ein Blick auf die Scheidungsquote in Deutschland zeigt auch, wie viele Menschen in Deutschland vor den Trümmern gebrochener Versprechen stehen und zusehen müssen, wie sie sich über Wasser halten. In Deutschland gab es 2020 2.088.000 alleinerziehende Mütter und 435.000 alleinerziehende Väter. Oft genug müssen diese Menschen gewaltige Abstriche machen, um überhaupt Erwerbsarbeit leisten zu können. Elternteile, die sich um Kinder kümmern müssen, gelten als Unsicherheitsfaktor. Sie können jederzeit ausfallen, wenn das Kind krank wird, deswegen kann man ihnen keine verantwortungsvolle Arbeit übertragen; wenn das Kind während einer Probezeit zu oft krank ist, beendet man den Vertrag lieber. Das ist das gute Recht der Arbeitgeber. Sie brauchen sicherlich verläßliche Arbeitskräfte, ganz klar. Es ist und bleibt kompliziert. Ich erwähne das alles auch nur, um zu illustrieren, dass die Entscheidung für ein Hausfrauendasein vielleicht nicht ganz so leichtfertig getroffen wird wie die Zyniker unter uns sich das denken – und manchmal ist es auch nicht wirklich ein selbstgewähltes Schicksal.

Ich vertrete schon sehr lange die Auffassung, dass die Arbeit von Frauen aufgewertet werden muss, vor allem im Kleinen. Es nützt uns nichts, wenn wir damit anfangen, den Konzernen eine Frauenquote für die Chefetage aufzuzwingen. Das bringt nur mehr Frauen mit betriebswirtschaftlichen Argumenten in die Chefetagen – und die wenigsten von ihnen denken über ihre Geschlechtsgenossinnen am unteren Ende der Karriereleiter nach. Nein, es geht darum, dass wir uns bewußt machen, was Frauen, gerade Hausfrauen leisten – und was uns gesellschaftlich verloren geht, wenn wir sie nicht in Anspruch nehmen können. Es braucht ein Bewußtsein für den Wert, den wirklichen, gesellschaftlichen Wert der Arbeit, die oft so verächtlich als „Frauenarbeit“ abgetan wird. Diese Frauen brauchen keinen Applaus, sie brauchen echte, ehrliche Anerkennung. Sie brauchen Rentenansprüche, sie brauchen eine dem unschätzbaren Wert ihrer Arbeit zumindest annähernd entsprechende Entlohnung. Sie brauchen keinen Muttertag, sie brauchen Selbstbewußtsein und Selbstverständnis.

So, wie viele Männer mit dem Selbstverständnis zur Arbeit gehen, für ihre Familie zu sorgen, indem sie genügend verdienen, sollten Hausfrauen das Selbstverständnis entwickeln, dass sie das erst möglich machen – und die Anerkennung der Gesellschaft dafür.

Beitragsbild: Valter Cirillo auf Pixabay

Ermittler, Richter – und dann auch noch Henker?

demonstration

Das Phänomen der Cancel Culture ist nicht wirklich neu. In Newsgroups, Foren und auf Message Boards kam es schon in den Anfangszeiten des Internet immer wieder einmal vor, dass Menschen für ihre Äußerungen öffentlich beschämt wurden. Der erste Fall, der mir in Erinnerung ist, war Justine Sacco, die auf ihrem Flug von New York nach Cape Town einen Tweet geschrieben hat, der innerhalb kürzester Zeit Wut und Empörung auf Twitter auslöste. Die Konsequenz war, dass sie, als sie in Cape Town aus dem Flugzeug stieg, keinen Arbeitsplatz mehr hatte, weil die empörten Twitter-User ihren Arbeitgeber informiert und auf ihre fristlose Kündigung gedrängt hatten. Dieser Erfolg hat die Gemeinschaft derer, die sich berufen fühlen, in sozialen Netzwerken für vermeintliche Gerechtigkeit anzutreten, derart beflügelt, dass sich daraus eine richtiggehende Kultur – eben die Cancel Culture – entwickelt hat.

Die freie Äußerung einer Meinung ist in Deutschland vom Grundgesetz garantiert. Sagen darf man hierzulande fast alles, man darf nachweisbare wissenschaftliche Erkenntnisse in Zweifel ziehen, man darf Rassist sein oder Misogynist. Alles das darf man – auch wenn es natürlich Konsequenzen nach sich zieht. Üblicherweise endet man, wenn man sich rassistisch, frauenverachtend, wissenschaftsfeindlich oder auf andere Weise gesellschaftlich nicht anerkannt äußert, in einer gewissen Isolation, die einem nur noch den Weg in Gruppen, die diese nicht anerkannten Meinungen teilen, übrig lassen. Nichtsdestoweniger ist die freie Meinungsäußerung so gestaltet, dass wirklich nur dann eingegriffen werden kann, wenn der, der sich äußert, sich dabei auch strafbar macht. Als krassestes Beispiel nenne ich die Leugnung des Holocaust.

Darüber hinaus findet die Meinungsäußerung ihre Grenzen in den Straftatbeständen der Beleidigung, der üblen Nachrede und der Verleumdung (der Gesamtkomplex dieser Straftaten findet sich in den §§185 – 200 des Strafgesetzbuchs). Diese Delikte werden nicht von Amts wegen verfolgt, hier muss derjenige, der glaubt, beleidigt oder verleumdet worden zu sein, Anzeige erstatten; man nennt das Antragsdelikt. Insgesamt ist dieser strafrechtliche Komplex etwas kniffelig, weil hier jeweils eine sorgfältige Würdigung stattfinden muss, die sicher auch den Zusammenhang, in dem die jeweilige Äußerung getätigt wurde, mit beleuchten soll.

Ein Kurznachrichtendienst hat das nicht nötig. Als Justine Sacco ihren Tweet absetzte, hatte man 140 Zeichen zur Verfügung, um seine Gedankenfetzen ins Internet zu blasen. In den seltensten Fällen schrieb jemand einen Thread (also mehrere Tweets, die zusammenhängend sozusagen an einem Faden [Thread] zusammenhängen), so dass praktisch jeder Tweet für sich allein stand und jeweils vom Leser so interpretiert werden konnte, wie der die Nachricht eben sah. Hat jemand nachgefragt, um die Äußerung einzuordnen? Natürlich nicht. Justine war im Flugzeug und hatte ihr Handy ausgeschaltet. Und selbst wenn sie sofort hätte gegensteuern können, hätten die aufgebrachten Twitter-User ihr vermutlich nicht geglaubt.

Diese Unart, Menschen in sozialen Medien für jede auch noch so dumme, unbedachte Äußerung zur Rechenschaft zu ziehen (neudeutsch: „call out“), bringt denen, die sich im Kreise der „Gerechten“ wähnen, ungefähr dieselbe Befriedigung wie weiland der Dorftratsche, die die ungeliebte Nachbarin der Hexerei bezichtigte – und wenn es möglich wäre, das Internet zu nutzen, um Menschen zu lynchen oder auf den Scheiterhaufen zu stellen, wäre das inzwischen gang und gäbe. Die gerechten Teilnehmer der sozialen Gerechtigkeitsliga ermitteln die Missetäter, sie legen die Strafe fest und hängen sie virtuell – indem sie dafür sorgen, dass diese Unmenschen ihren Arbeitsplatz verlieren, von ihrem sozialen Umfeld geächtet werden und letztlich isoliert dastehen.

Dass dieses Verhalten mittelalterlich ist, ist den meisten nicht bewußt. Sie hassen die Polizei, die „nichts tut“, sie misstrauen den Gerichten und sie machen die Social-Media-Gesetze, nach denen geurteilt wird. Sie prügeln Netzwerkdurchsetzungsgesetze durch, die ohne sie gar nicht notwendig wären, weil unsere Gesetze gut genug sind, wenn sie denn vernünftig angewendet würden. Und sie schämen sich auch nicht, wenn sich herausstellt, dass sie jemanden zu Unrecht den Arbeitsplatz gekostet haben, wenn sie den falschen Mann die Familie gekostet haben, denn sie sind die Gerechten und die eine oder andere falsche Hexe, die verbrannt wird, muss man halt in Kauf nehmen, wenn man alle Hexen erwischen möchte, nicht wahr?

Dieses Verhalten hat bedauerlicherweise vor allem auf die Regenbogenpresse abgefärbt. In der Hoffnung, als Erster zu berichten, den ersten Artikel vertwittern zu können, damit man die Aufmerksamkeit der Teilnehmer in den sozialen Medien und damit Klicks bekommt, wird oft auf ernsthafte Recherche verzichtet. Umgekehrt, wenn in Social-Media-Nachrichten Gerüchte in die Welt gesetzt werden, kann es gut und gern passieren, dass jemand sich plötzlich einem wirklich abscheulichen Vorwurf ausgesetzt sieht, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was hier eigentlich los ist.

Und so lesen wir in Internet-Erzeugnissen von „Bild“ über „Spiegel“ und „Bunte“ bis hin zur „FAZ“, dass Menschen, die mehr oder weniger bekannt sind, ihre Frauen schlagen, ihre Männer betrügen, ihre Familien verlassen und ihre Fans enttäuschen. Manchmal kann man auch irgendwelche Gerichtsurteile einflechten, die man zwar nicht gelesen hat (ja, noch nicht einmal das Verfahren selbst verstanden hat), aber das macht nichts, solange die Empöreria der Gerechten klickt und teilt, was das Zeug hält. Das bringt Werbeeinnahmen, damit wird sehr, sehr viel Geld verdient.

Ja, und so rutschen wir in eine Desinformationsgesellschaft, denn was mit der Gattin des Präsidenten oder dem Sohn des bekannten Schauspielers klappt, das geht natürlich auch mit Wissenschaftlern und deren Erkenntnissen, das funktioniert mit Politikern, Regierungen, Stadtverwaltungen, Pharmaunternehmen und, und, und. Natürlich glaubt Lenchen, die den schönen Jüngling, der den Liebhaber in ihrer Lieblingssoap spielt, für einen verachtenswerten Vergewaltiger hält, nicht daran, dass in Impfstoffen von Bill Gates hergestellte Chips enthalten sind, das ist ja Blödsinn. Und Hagen, der sich schon deshalb nicht impfen lässt, weil er befürchtet, dass seine Gene verändert werden, ist überzeugt dass oben genannter Jüngling ein überaus guter Mensch ist, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Beide eint, dass sie glauben, was geschrieben steht und ihrer persönlichen Bezugswelt entspricht, verstärkt und multipliziert durch ihre Brüder und Schwestern im Geiste.

Ich fürchte, aus diesem Text spricht eine gewisse Bitterkeit. Ich bin bitter, das ist richtig. Es geht mir unsäglich auf die Nerven, wenn von „Hassrede“ (einer unjuristischen Bezeichnung für das englische Wort „Hatespeech“) gesprochen wird, wenn Gesetze mit glühend heißer Nadel gestrickt werden, um den Mob zu beruhigen. Ja, es ist vollkommen richtig, dass online gemobbt wird, dass einem schwindlig werden kann. Aber das ist tatsächlich ein gesellschaftliches Problem und ein Problem des Umgangs mit dem Medium.

Meinem Bildschirm kann ich alles sagen. Mein Bildschirm ist kein Mensch. Dass am anderen Ende der Leitung ein Mensch sitzen könnte, der mit dem, was ich in meiner Wut in die Textbox an meinem Bildschirm schreibe, nicht zurecht kommt, weiß ich nur in der Theorie. Und so ist ein sehr explosives Gegeneinander entstanden, eine Art Schlacht, in der jeder hingemetzelt wird, der irgendwie anders ist – und das, wo andernorts Diversity sonst großgeschrieben wird. Es ist sozusagen ein Krieg entstanden, in dem um die Hoheit über Meinung und Moral gekämpft wird.

Was da natürlich auch noch wirkt, ist der Gruppenzwang. Mich erinnert das tatsächlich an die Zeiten, da die Kirchen die Deutungshoheit über Moral und Wahrheit hatten. Die Hexenverfolgung habe ich ja schon genannt, da gab es aber noch einiges mehr. Empfohlen sei in diesem Zusammenhang die Lektüre des Buches „Eunuchen für das Himmelreich“ von Uta Ranke-Heinemann. Wir sollten immer im Hinterkopf haben, dass gewisse Verhaltensweisen seit Jahrhunderten, teils seit Jahrtausenden in unser Verständnis von menschlichem Zusammenleben eingebrannt sind und dass diese Verhaltensweisen nicht unbedingt gut für eine moderne, offene Gesellschaft sind.

So etwas verändert sich nicht über Nacht, auch nicht durch äußere Einflüsse oder Formalismen wie die Anpassung der Sprache. Wir laufen also immer Gefahr, auf uns selbst hereinzufallen und die sozialen Medien, die uns zur Verfügung stehen, machen es uns hier wirklich sehr leicht. Was kann uns da also helfen?

Für Medien und Berichterstatter wäre es doch mal quasi alternativlos, auf die guten, alten Regeln für Berichterstattung zurückzugreifen: Mindestens zwei, besser drei seriöse Quellen. Twitter, Facebook oder Instagram können nur dann als Quelle gelten, wenn sichergestellt ist, dass der Accountinhaber sich zitierfähig äußert. Wenn man also so ein Gerücht findet, sollte man nachsehen, ob es irgendwo verläßliche Bestätigungen gibt. Außerdem wäre es meiner Ansicht nach gut, Bericht zu erstatten, wenn es denn etwas zu berichten gibt. Was nützt dem Leser das Wissen, dass gegen die berühmte Schauspielerin angeblich wegen Kaufhausdiebstahls ermittelt wird? Könnten wir die Ermittlungen vielleicht mal abwarten und erst berichten, wenn ein Ergebnis vorliegt? Wenn die schöne, nicht ganz so berühmte Schauspielerin gegen ihren geschiedenen Mann, ebenfalls Schauspieler, den Vorwurf erhebt, er habe sie geschlagen und regelrecht eingesperrt, dann ist das erstmal genau das: Ein Vorwurf, der nicht bestätigt ist. Wenn das aber in irgendeiner „Herzenszeitung“ berichtet wird, dann wird dieser Vorwurf zum Narrativ, zu einer Art Wahrheit und – schlimmer noch – er kann so stehenbleiben. Das liegt in der Pressefreiheit, die natürlich erlaubt, dass Schauspielerin A den Schauspieler B einer nachgerade widerlichen Straftat beschuldigt. Ob das jetzt wirklich wahr ist, ist relativ egal, sie hat das ja gesagt. Also: Vielleicht erstmal mit dem  Skandalgeschrei zurückhalten und abwarten, was bei der Story so rumkommt. Kriminell wird es, wenn dann Zivilklagen für Strafverfahren ausgegeben werden und in der Folge Menschen Straftaten nachgesagt werden, für die sie nie vor Gericht standen und schon gar nicht verurteilt wurden.

Für die aktiven Social-Media-Teilnehmer wäre es wirklich wichtig, vor dem Sprung auf die skandalöse Aussage erst einmal die Finger von der Tastatur zu nehmen und sich zu fragen, ob dieser Kommentar, dieser Retweet, diese Weiterverbreitung wirklich notwendig ist. Eine weitere gute Frage, über die man gerne vorher nachdenken darf, ist die, warum man sich über genau diese Meldung genau so aufregt. Welches Gefühl spricht dieser Tweet, dieser Post eigentlich an? Warum habe ich das Bedürfnis, jetzt sofort mit den unflätigsten Beschimpfungen zu reagieren und, wenn es mir möglich ist, der sozialen Zerstörung dessen, von dem die Rede ist? Ich weiß, die Überprüfung der eigenen Reaktionen und des eigenen Denkens ist sehr aus der Mode gekommen. Vielleicht wäre hier ja auch mal wieder eine gute Aufgabe für die Schulen, die Kinder und Jugendlichen nicht nur helfen sollten, Wissen zu erwerben, sondern auch umsichtiges Denken zu lernen.

Letzlich läuft es darauf hinaus, dass wir alle vornehmlich zwei Aufgaben haben: Tief durchatmen und ignorieren lernen. Nur weil alle irgendetwas sagen, heißt das nicht, dass das auch stimmt. Nur weil zwei Wissenschaftler völlig unterschiedliche Standpunkte haben, heißt das nicht, dass der, dessen Standpunkt mir nicht passt, auch der ist, der falsch liegt. Und dann sollten wir uns vor allem eins vor Augen halten: Nur weil etwas schriftlich niedergelegt ist, ist es nicht unbedingt wahr, auch wenn wir von Kindesbeinen an gelernt haben, dass das, was wir lesen können, richtig ist. Geduld haben, abwarten und sich für die Meinungsbildung Zeit lassen ist wichtiger als „ERSTER!“ rufen zu können.

Bleibt cool und seid im Zweifelsfall dann einfach mal Letzter.

Beitragsbild: Peter H auf Pixabay

Eindrücke vom Abzug aus Afghanistan

Ich bin außenpolitisch überwiegend mit Ahnungslosigkeit geschlagen, das vorweg. Jetzt schreibe ich trotzdem auf, was meine Eindrücke von den Ereignissen in Afghanistan sind. Das tue ich aus zwei Gründen: Das Internet ist voll von Leuten, die mir helfen können, meine Sichtweise zu korrigieren, falls das nötig ist und ich fürchte, dass ich mit dem, was ich sehe, nicht allein bin. Es wäre auch zuviel verlangt vom „Durchschnittsmenschen“, über derart komplexe außenpolitische Vorgänge vollumfänglich Bescheid zu wissen. Also los, fangen wir mit der ersten Erinnerung an, die ich an die Berichterstattung von diesem Kriegsgeschehen habe:

Horst Köhler, damals Bundespräsident, sagte am Rande eines Truppenbesuchs folgende, sehr wahre Worte:

„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“

Das war der kommunikative Supergau, den ein Bundespräsident sich wirklich nicht leisten durfte und es hat Horst Köhler ja dann auch prompt den Job gekostet. Nichtsdestoweniger war die Einschätzung vollkommen korrekt. Keine Regierung dieser Welt wird sich an einem Krieg beteiligen, wenn es nicht um eigene Interessen geht. Das ist so, das war so – und das wird immer so sein. Hätten wir und unsere Aliierten für unseren Außenhandel und sonstigen Interessen freie Bahn gehabt, wäre die Herrschaft der Taliban nie in Gefahr gewesen. Jedenfalls nicht durch den Westen; der Konflikt hätte sich dort unter den Bürgerkriegsparteien abgespielt und wir hätten höchstens humanitäre Hilfe geschickt, niemals aber Militär, niemals Ausbilder.

So, das heißt für mich, dass dieser Einsatz folgende Ziele verfolgt haben muss:

  • Sicherstellung unserer wirtschaftlichen Präsenz in der Region
  • Sicherung von eventuell vorhandenen Rohstoffen in der Region
  • Ausbildung von Polizei und Armee zum Schutz unserer Interessen (Industrieanlagen, Lager, dgl.) in der Region

Dass man nebenher das Feigenblatt des humanitären Einsatzes noch vor die empfindlichen Stellen des Regierungskörpers halten konnte, war sehr praktisch. Dumm, dass dieser Elefant im Porzellanladen von einem Bundespräsidenten damals so dämlich war, tatsächlich zu sagen, was Fakt war, und das auch noch zitierfähig. So etwas tut man nicht!

Wie humanitär unser Interesse an Afghanistan tatsächlich ist, sieht man an dem Truppenabzug. Der US-amerikanische Präsident zieht die Truppen entgegen aller Warnungen im Rekordtempo ab und innerhalb kürzester Zeit kommen die Taliban zurück nach Afghanistan. Das bedeutet eine lebensbedrohliche Katastrophe für

  • alle Mitarbeiter, die mit uns zusammengearbeitet haben (Ortskräfte)
  • Frauen und Mädchen
  • alle, die der radikalen Koranauslegung der Taliban nicht folgen
  • alle, die in das orthodoxe Raster der Taliban nicht passen

.

Wir haben, das haben inzwischen sogar einige unserer Politiker laut gesagt, eine Verpflichtung gegenüber den Menschen in Afghanistan, vor allen Dingen gegenüber den sogenannten Ortskräften. Sie haben uns in unserem Tun und für das Erreichen unserer Ziele unterstützt, das macht sie zu Verrätern in den Augen der Taliban und auf Verrat steht der Tod. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin der Botschaft, des Konsulats, Übersetzer für die Soldaten der Bundeswehr, alle, die handwerkliche Arbeit geleistet haben, sind genau dieser Gefahr ausgesetzt und sollten sie hingerichtet werden, so klebt ihr Blut an unseren Händen. Und nein, ich sage bewußt nicht „an den Händen unserer Regierung“. Eine Mehrheit von uns hat diese Leute gewählt, wir sind hier in einer Demokratie, also sind wir alle mitverantwortlich. Man kann sich nicht aussuchen, wann „wir“ die Guten, die Medaillengewinner, die Weltmeister, die helfenden Hände, die freundlichen EU-Nachbarn, sind und wann „die“ (Regierung, nämlich) die üblen Spießgesellen sind, die unsere Soldaten in den Krieg schicken, die Letzter werden oder vierter, die die einen Hilfsbedürftigen den anderen Hilfsbedürftigen vorziehen. Ganz oder gar nicht, das ist auch Teil der Demokratie, auch wenn viele Menschen das nicht begreifen wollen.

Die Taliban erklären jetzt, sie wären ja ganz andere Taliban als die, die vor 20 Jahren regelmäßig in Rachsucht und Gewalttätigkeit über die Menschen in Afghanistan hergefallen sind. Sie sagen, sie würden alles vergessen und verzeihen. In Kabul ist es momentan auch wohl erstaunlich ruhig. Das, was im Inland los ist, bekommen wir nicht mit. Trotzdem scheinen die Menschen sich zu fürchten. Clarissa Ward, die momentan für CNN vor Ort in Kabul ist, hat Stephen Colbert ein sehr interessantes Interview gegeben. Sie sagt:

So viele Menschen fühlen sich zurückgelassen, sie haben das Gefühl, links liegengelassen zu werden und sie sind zutiefst verängstigt und voller Bitterkeit.

Auf die Frage, ob das Gefühl bestünde, dass die Taliban niemanden von diesen Leuten [die die USA-Truppen unterstützt haben] außer Landes lassen würden, also grundsätzlich alle einsperren würden, sagt sie:

Ich denke nicht, dass dieses Gefühl jetzt schon besteht. Ich meine, die Taliban haben definitiv gesagt, bitte geht nicht, denn sie wissen, dass aus der PR-Perspektive heraus diese Bilder von diesen Menschenmassen, die sich verzweifelt an die Flugzeuge der US-amerikanischen Luftwaffe klammern, um außer Landes zu kommen, sie nehmen wahr, dass das wirklich schlecht für sie aussieht und sie versuchen in diesem Mement zu signalisieren, dass sie eine andere Art von Taliban sind, dass sie regieren können, dass sie diplomatischer sind und deshalb wollen sie offensichtlich keine Szenen auf dem Boden, die diesem Narrativ direkt entgegenstehen. Ich habe noch nicht das Gefühl, dass sie Menschen direkt am verlassen des Landes hindern wollen, aber das ist offensichtlich die große Angst.

Die andere große Angst ist, dass sobald die Amerikaner zusammengepackt und die Zugbrücke hochgezogen haben, wie werden die Afghanen, die mit den Vereinigten Staaten zusammengearbeitet haben, wie wickeln sie den Papierkram ab, reichen dieses Dokument ein, mit wem können sie sprechen? Diese Leute dachten, sie hätten mehr Zeit, um sich auf diesen Moment vorzubereiten, vielleicht Monate. Es waren Stunden.

Die Antwort auf die nächste Frage ist das, was mich auch bewegt. Stephen Colbert fragte, was die Menschen in Afghanistan, die mit den Amerikanern und der amerikanischen Präsenz gelebt haben, über den amerikanischen Rückzug und die Amerikaner jetzt denken. Clarissa Ward sagte dazu:

Wissen Sie, ich denke das ist ein wirklich wichtiger Punkt für die Afghanen, mit denen ich gesprochen habe; sie werfen Amerika nicht vor, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Sie haben von Amerika nicht erwartet, weiter jahrzehntelang den Krieg eines anderen Landes zu führen und sie verstehen vollkommen, dass das afghanische Volk die Verantwortung für sein eigenes Land übernehmen muss. Aber wo die Bitterkeit, die Traurigkeit, wo die Angst herkommt, ist die Art, in der dieser Rückzug ausgeführt wurde, das Chaos darin, die Eile, die Tatsache, dass den Taliban während dieser Verhandlungen nicht mehr Zugeständnisse abgerungen wurden, daher kommt der Kummer, daher kommt die Bitterkeit und daher kommt die Wut.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gefühle gegenüber den Deutschen wesentlich anders sind. Und ich kann das gut verstehen. Was das für die Zukunft der Region heißen mag, für die weltweite Sicherheitsstruktur, ist wohl wirklich kaum absehbar. Wie viele Afghanen werden sich wohl schon aus Enttäuschung und Wut gegen den Westen, gegen die NATO wenden?

Ein Thema, das mich besonders besorgt, ist die Frage, was wohl aus den Frauen und Mädchen wird. Die Taliban sind Muslime, ja. Da gibt es, ebenso wie bei den Christen, Abstufungen, Schattierungen. Die Taliban gehören wohl zu den konservativsten, othodoxesten Muslimen überhaupt. Frauen haben es da schwer, wenn sie sich nicht damit abfinden möchten, wie Dinge behandelt zu werden. Schon jetzt kursieren Bilder von Taliban, die sich unter den Mädchen, die sie vorfinden, eine Frau aussuchen und einfach mitnehmen. Ehefrauen sind in diesem Zusammenhang eher so etwas wie Sklavinnen, die für die Zufriedenheit des Mannes zuständig sind. Mädchen zur Schule zu schicken gilt als sündhaft. Clarissa Ward erwähnte, dass man auf den Straßen praktisch keine Frauen mehr sieht, dass sie aus Angst vor Repressalien zuhause bleiben. Nach 20 Jahren, in denen ja auch Kinder geboren wurden und in einem gänzlich anderen Klima heranwuchsen, scheint das erstaunlich. Den Taliban scheint dort also ein Ruf vorauszueilen, der Angst und Schrecken verbreitet, auch wenn sie jetzt sagen, sie wären anders. Moderner? Besser? Sie werden das beweisen müssen.

Der US-amerikanische Präsident Biden sagte, die Truppen seien nach Afghanistan geschickt worden, um weitere Anschläge wie den vom 11. September 2001 zu verhindern und dieses Ziel sei nun erreicht. Wie weit ist dieses Ziel erreicht, wenn genau die Menschen, die für diesen und viele weitere Anschläge verantwortlich gemacht wurden, jetzt wieder das Land beherrschen? Können wir sicher sein, dass wir keine Renaissance des radikalen Islamismus erleben? Ich denke, dass wir das nicht sein können, vor allem, wenn man bedenkt, wie rasend schnell die Taliban nach dem Truppenabzug das Land wieder in Besitz genommen haben.

Bei ihrem Vormarsch haben die Taliban auch Biometrie-Geräte und -Datenbanken erbeutet, die durchaus auch darauf abgespeicherte Daten enthalten. Wir dürfen uns nicht der Vorstellung hingeben, dass diese Menschen, nur, weil sie sich fransige Bärte wachsen lassen und Kleidung tragen, die wir in längst vergangenen Zeiten verorten, nicht mit moderner Technik umgehen können. Sie haben militärisches Gerät, das das afghanische Militär von den USA bekommen hat, sie haben Piloten, sie haben nicht nur die Technik, sie haben die Bildung, um mit der Technik umzugehen.

Nein, ich denke nicht, dass dass das afghanische Militär nicht mit entsprechenden Geräten hätte ausgerüstet werden dürfen und ich denke auch, dass die Soldaten mit dem Gerät umgehen können. Aber um es dann auch einzusetzen, brauchen Soldaten nicht nur Wissen und Können, sondern auch den entsprechenden Kampfgeist. Ich fürchte, den haben wir ihnen durch diesen völlig überstürzten Abzug genommen.

Ich hoffe sehr, dass uns das nicht auf die Füße fällt. Und noch mehr hoffe ich, dass das den Afghanen und den Menschen in ihrer Region nicht auf lange Sicht schlimmen Schaden zufügt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Lasagne à la mode de Astrid

Ofen auf 180°C vorheizen! Nicht vergessen!

Achtung! Es gibt Lasagnenudeln, die vorgekocht werden müssen. Anweisungen auf der Packung beachten!

Ragout

2 Zwiebeln in Würfel schneiden,
ca. 1 EL Butter im Topf zerlassen, die Zwiebeln darin glasig dünsten,
500 g Hackfleisch darin anbraten.
2 Dosen stückige Tomaten oder
500 g frische Tomaten, stückig geschnitten und 2 EL Tomatenmark
dazugeben.
1 Zehe Knoblauch (oder mehr, je nach Geschmack) schälen, kleinschneiden und mit einer Gabel in etwas Salz zerdrücken, dazugeben und alles auf kleiner Flamme köcheln lassen; kurz vorm Schichten noch italienische Kräuter (Oregano, Basilikum, evtl. etwas Thymian oder fertige Mischung)  unterrühren

Béchamelsauce

80 g Butter in einem neuen Topf zerlassen, dann
80 g Mehl langsam unter Rühren einstreuen, bis eine Mehlschwitze entsteht und unter weiterem Rühren (am Besten mit dem Schneebesen)
800 ml Milch langsam dazugießen; aufkochen lassen. Sobald eine sämige, dickliche Sauce entstanden ist,
ca. 1 TL Fondor oder Gemüsebrühe einrühren.

Lasagne schichten

Eine  Lasagneform oder Jenaer Glasform ausfetten (Butter oder Öl); den Boden mit Ragout bedecken, dann Lasagnenudeln darauf schichten. Darauf dann noch einmal Ragout, dann Béchamelsauche und Nudeln. Die letzte Schicht sollte Béchamelsauce sein.  Mit geriebenem Käse bedecken und ab in den vorgeheizten Ofen, ca. 30 Minuten (Nudelpackung beachten!) backen.

Schwarz-Weiss-Denken

Vorgestern stieß ich auf eine große Ankündigung: Der neue Superman wird von einem schwarzen Schauspieler dargestellt. Alle Welt jubelt und feiert – für mich fühlt sich das aber unangenehm an.

Hurra, ein schwarzer Superman! Endlich! Sorry, ich kann es nicht verstehen. Superman war seit seiner Erfindung weiß. Er verhält sich wie ein Weißer, er bewegt sich in einem überwiegend weißen Kulturkreis, seine Kusine ist weiß und er wurde von Weißen ersonnen. Sicher, das kann man strukturrassistisch nennen, das passt ja auch zu der Zeit, in der Jerry Siegel und Joe Shuster den Superman geschaffen haben. Das erklärt auch, warum Frauen lange Zeit die hilflosen, schwachen Wesen darstellen mussten, die in Schwierigkeiten gerieten und ihren Superretter innig angestrahlt haben, sobald die Gefahr gebannt war. Und es ist vollkommen richtig, dass Schwarze, Asiaten, und Angehörige indigener Völker gerade in den spannenden Superheldengeschichten so unterrepräsentiert sind, dass auch dort Identifikationsfiguren dringend notwendig sind.

Dasselbe gilt für Frauen in der Unterhaltungsbranche, auch wenn es da langsam besser wird. Gerade im Moment führt uns die Serie „WandaVision“ auf Disney+ vor Augen, wie viel weiter wir bereits gekommen sind. Die Serie führt den geneigten Zuschauer durch die Sitcom-Kultur von den 50er Jahren bis heute, was ausgesprochen interessant anzusehen ist. Trotzdem wurden auch bei der Darstellung „Frau-statt-Mann“ wirklich Fehler gemacht. Beispielsweise die „Ghostbusters“ von 2016, für den die Hauptrollen mit Frauen besetzt wurden – und die leicht dümmliche Sekretärin ein Mann war.

Ich denke nicht, dass man so einfach aus Weiß schwarz und aus Mann Frau machen kann. Das heißt, natürlich kann man – man wird aber dem Anliegen nicht gerecht. Einer der gelungensten Superheldenfilme der letzten Jahre war „Black Panther“. Dieser Film basiert aber auf einem schwarzen Superhelden innerhalb einer schwarzen Kultur. Ich denke, dass es durchaus möglich ist, einen schwarzen (Super-)Helden innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft überzeugend und vorbildhaft darzustellen. Luke Cage ist ein gutes Beispiel dafür, ebenso Black Lightning. Da muss dann aber auch ein bisschen mehr Kreativität investiert werden als einfach nur ein simples aus-weiß-mach-schwarz. Mich ärgert das und ich finde, dass die Unterhaltungsindustrie es sich hier wirklich zu einfach macht. Nur, weil eine Marke (hier: Superman) eingeführt ist, heißt das nicht, dass man sie dafür nutzen kann, gesellschaftliches Umdenken zu erzeugen. Ich fürchte sogar, dass das danebengehen wird.

Dasselbe gilt für die Frauen. Wirklich interessante Frauenrollen sind rar. Gute Filme, die Frauen realistisch darstellen, kann man mit der Lupe suchen. Entweder es gibt das Weibchen-Schema, das die rehäugige Nicht-Heldin, die ohne männliche Hilfe nicht auskommt, herausstellt oder es ist die Mannweib-Heldin, die niemanden braucht und und auf die Kerle in ihrem Leben dankend verzichten kann. Alles dazwischen ist relativ selten (aber es gibt Filme, die Zwischentöne anschlagen, zum Beispiel den Film Courage under Fire [deutsch: Mut zur Wahrheit] aus dem Jahr 1996). Interessante Frauenrollen sollten meiner Ansicht nach Frauen zeigen, die sich wie Frauen verhalten – und da gibt es hier und da Unterschiede zum männlichen Verhalten, ohne dass man da auf das Klischee der Jungfrau in Nöten zurückgreifen müsste.

Das wünsche ich mir von Filmemachern: Dass sie tatsächlich in die Welt derer eintauchen, die sie porträtieren wollen, die kulturellen Hintergründe zeigen, aufzeigen, wie wir unterschiedlich sein können, ohne dass wir voneinander getrennt sein müssen. Sie sollen Licht werfen auf das, was im Schatten ist, Stärken und Schwächen zeigen. Schwarz ist nicht weiß, weiblich ist nicht männlich, Plus ist nicht minus. Wenn wir wollen, dass wir gesellschaftlich zusammenwachsen, müssen Unterschiede so selbstverständlich werden, dass sie keine Rolle mehr spielen und wir müssen wahrnehmen, dass das Gleiche eben nicht dasselbe ist. Das ist weder Rassismus noch ist es Sexismus – und es ist schon mal überhaupt keine Gleichmacherei. Wer Vielfalt will, muss meiner Ansicht nach die Vielfalt leben lernen.

Unsichere Zukunft

Plötzlich und unerwartet steht unser Leben auf dem Kopf. Ein Virus, viel zu winzig, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen, bringt unseren Alltag zum Erliegen. Menschen bleiben zuhause. Wohl dem, der Familie hat, da ist wenigstens noch Ansprache möglich, solange es ausreichend Rückzugsorte gibt. Singles wie ich sitzen allein zuhause und telefonieren oder sehen fern. Nie habe ich Netflix so sehr zu schätzen gewußt wie derzeit.

Wenn aber zwischendurch einmal Pause ist, wenn ich innehalte, nicht mehr versuche, mich in eine andere Welt zu begeben, dann überfällt mich ein ungutes Gefühl. Das liegt daran, dass ich mich informiere. Sicherlich sind Hauptquellen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die Onlineausgaben von Tageszeitungen (gelobt sei an dieser Stelle Twitter, die alte Linkschleuder, die mir viel Recherchearbeit abnimmt). Dazu kommen Dinge, die einfach nicht ausbleiben können: Die Kommentare meiner Familie auf WhatsApp, zum Beispiel, wo die Linkschleuder eben nicht meine wohlgepflegte, handverlesene Twitter-Timeline ist, sondern oft genug die obskureren Ecken in Facebook. Die „Diskussion“ der Auswirkungen des Virus und der Maßnahmen, die getroffen werden müssen, wird auch dadurch nicht leichter, dass Ärzte und Wissenschaftler (richtig, da gibt es einen Unterschied) teils ebenfalls sehr unterschiedliche Ansichten haben.

So sitzen wir allein (oder zu zweit, dritt, viert…) in unseren Wohnungen, wo wir zu viel Zeit zum Denken haben und zu viel Zeit zum Angst haben.  Das Virus hat uns fest im Griff, obwohl die meisten von uns gar nicht krank sind. Aber das ist eben das Tückische: Niemand kann genau sagen, wen es erwischen wird. Sicher sind Menschen mit einem von Diabetes oder Immunsuppressiva* geschwächten Immunsystem eher bedroht. Sicher sterben auch viele alte Patienten, deren Immunsystem sowieso nicht mehr sehr gut ist, teils mit, teils an Covid-19. Sicher kann man davon ausgehen, dass das Virus relativ jungen Menschen, die gesund sind, nicht viel anhaben kann – meistens. Menschen, die da Ausnahmefälle sind, ohne es zu wissen, hilft das wenig.

Damit sind wir so ungefähr bei der Quintessenz dessen was wir wissen: Das Virus kann gefährlich sein, die Erkrankung kann tödlich enden, es kann grundsätzlich jeden erwischen, auch wenn alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen gefährdeter sind, ein Mundschutz kann von Nutzen sein, die Maßnahmen, die unsere Politiker beschlossen haben, können dazu beitragen, dass wir unser Gesundheitsystem nicht überlasten und damit vermeiden, mehr Menschen zu gefährden als nötig. Kann. Muss aber nicht.

Es ist sehr viel Möglichkeit in den Informationen, die wir bekommen und sehr wenig Gewissheit. Jetzt, wo die Zahlen so schüchtern und vorsichtig besser werden wie die Blattknospen an den Bäumen erscheinen und größer werden, kommen die ersten Rufe nach Lockerung der Maßnahmen. Mehr Geschäfte sollen öffnen dürfen, vor allen Dingen. Mehr geöffnete Geschäfte bedeutet mehr Stadtbummler und das bedeutet, dass Abstände nicht mehr eingehalten werden könnten. So gerne ich mir vielleicht eine neue Jeans kaufen möchte – noch ist mir das Risiko zu hoch.

Durch die Maßnahmen ist auch die Versammlungsfreiheit gefährdet. In meiner wohlsortierten Twitter-Timeline sind die Menschen deswegen grundsätzlich unerfreut, denn sie würden gern demonstrieren, um ihre Freiheit zu schützen, denn die Maßnahmen, um Daten zu erheben, damit man das Virus vorhersagbarer machen können, sind vielerorts in gar keiner Weise mit geltenden Datenschutzbestimmungen zu vereinbaren. Die Befürchtung ist, dass hier Überwachungsmechanismen eingeführt werden, die später kaum noch oder gar nicht zurückgenommen werden können. Diese Befürchtung teile nicht nur ich, sondern auch meine Geschwister, die deutlich konservativer eingestellt sind als ich. Die Frage im Hinterkopf vieler Menschen hierzulande lautet:

Bekommen wir einen Überwachungsstaat durch die virale Hintertür?

Ich kann das nicht beantworten – vermutlich kann das niemand. Unseren derzeit mit den entsprechenden Maßnahmen befassten Politikern traue ich nicht zu, diese Situation, die die Gesellschaft sehr verwundbar macht, für diese Zwecke auszunutzen. Das Problem ist, dass die meisten Beschlüsse sehr schnell gefasst worden sind und die dazugehörigen (rechtlich bindenden) Texte entsprechend mit einer sehr heißen Nadel gestrickt wurden. Was, wenn so Löcher ins Werk gebrannt werden, die für nachfolgende „Politiker“ ein willkommener Türöffner sind? So unwahrscheinlich wie noch vor zehn Jahren ist das heute nicht mehr – und schon damals haben Menschen, die die Informationstechnologie gut kennen, vor den Gefahren des Datenmissbrauchs gewarnt. Heute ist diese Gefahr deutlich größer.

Was soll man jetzt also von alledem halten? Ist dieses Virus gefährlich für uns alle oder nur einige wenige? Ist das Virus selbst tödlich oder muss eine weitere Erkrankung hinzukommen? Sind die Maßnahmen, die ergriffen wurden, ausreichend, nicht ausreichend, übertrieben? Sind „Corona-App“ und ihre Geschwister zu datenhungrig? Entsteht aus der Furcht vor dem Virus endgültig der gläserne Bürger?

Ich weiß es nicht und vermutlich wissen das noch nicht einmal die Fachleute und Experten. Im Moment können wir nur hoffen, dass das alles gut geht. Ich halte uns die Daumen.

*Medikamente zur Unterdrückung des Immundsystems, die beispielsweise nach einer Organtransplantation genommen werden müssen, um Abstoßungsreaktionen zu vermeiden