Das Phänomen der Cancel Culture ist nicht wirklich neu. In Newsgroups, Foren und auf Message Boards kam es schon in den Anfangszeiten des Internet immer wieder einmal vor, dass Menschen für ihre Äußerungen öffentlich beschämt wurden. Der erste Fall, der mir in Erinnerung ist, war Justine Sacco, die auf ihrem Flug von New York nach Cape Town einen Tweet geschrieben hat, der innerhalb kürzester Zeit Wut und Empörung auf Twitter auslöste. Die Konsequenz war, dass sie, als sie in Cape Town aus dem Flugzeug stieg, keinen Arbeitsplatz mehr hatte, weil die empörten Twitter-User ihren Arbeitgeber informiert und auf ihre fristlose Kündigung gedrängt hatten. Dieser Erfolg hat die Gemeinschaft derer, die sich berufen fühlen, in sozialen Netzwerken für vermeintliche Gerechtigkeit anzutreten, derart beflügelt, dass sich daraus eine richtiggehende Kultur – eben die Cancel Culture – entwickelt hat.
Die freie Äußerung einer Meinung ist in Deutschland vom Grundgesetz garantiert. Sagen darf man hierzulande fast alles, man darf nachweisbare wissenschaftliche Erkenntnisse in Zweifel ziehen, man darf Rassist sein oder Misogynist. Alles das darf man – auch wenn es natürlich Konsequenzen nach sich zieht. Üblicherweise endet man, wenn man sich rassistisch, frauenverachtend, wissenschaftsfeindlich oder auf andere Weise gesellschaftlich nicht anerkannt äußert, in einer gewissen Isolation, die einem nur noch den Weg in Gruppen, die diese nicht anerkannten Meinungen teilen, übrig lassen. Nichtsdestoweniger ist die freie Meinungsäußerung so gestaltet, dass wirklich nur dann eingegriffen werden kann, wenn der, der sich äußert, sich dabei auch strafbar macht. Als krassestes Beispiel nenne ich die Leugnung des Holocaust.
Darüber hinaus findet die Meinungsäußerung ihre Grenzen in den Straftatbeständen der Beleidigung, der üblen Nachrede und der Verleumdung (der Gesamtkomplex dieser Straftaten findet sich in den §§185 – 200 des Strafgesetzbuchs). Diese Delikte werden nicht von Amts wegen verfolgt, hier muss derjenige, der glaubt, beleidigt oder verleumdet worden zu sein, Anzeige erstatten; man nennt das Antragsdelikt. Insgesamt ist dieser strafrechtliche Komplex etwas kniffelig, weil hier jeweils eine sorgfältige Würdigung stattfinden muss, die sicher auch den Zusammenhang, in dem die jeweilige Äußerung getätigt wurde, mit beleuchten soll.
Ein Kurznachrichtendienst hat das nicht nötig. Als Justine Sacco ihren Tweet absetzte, hatte man 140 Zeichen zur Verfügung, um seine Gedankenfetzen ins Internet zu blasen. In den seltensten Fällen schrieb jemand einen Thread (also mehrere Tweets, die zusammenhängend sozusagen an einem Faden [Thread] zusammenhängen), so dass praktisch jeder Tweet für sich allein stand und jeweils vom Leser so interpretiert werden konnte, wie der die Nachricht eben sah. Hat jemand nachgefragt, um die Äußerung einzuordnen? Natürlich nicht. Justine war im Flugzeug und hatte ihr Handy ausgeschaltet. Und selbst wenn sie sofort hätte gegensteuern können, hätten die aufgebrachten Twitter-User ihr vermutlich nicht geglaubt.
Diese Unart, Menschen in sozialen Medien für jede auch noch so dumme, unbedachte Äußerung zur Rechenschaft zu ziehen (neudeutsch: „call out“), bringt denen, die sich im Kreise der „Gerechten“ wähnen, ungefähr dieselbe Befriedigung wie weiland der Dorftratsche, die die ungeliebte Nachbarin der Hexerei bezichtigte – und wenn es möglich wäre, das Internet zu nutzen, um Menschen zu lynchen oder auf den Scheiterhaufen zu stellen, wäre das inzwischen gang und gäbe. Die gerechten Teilnehmer der sozialen Gerechtigkeitsliga ermitteln die Missetäter, sie legen die Strafe fest und hängen sie virtuell – indem sie dafür sorgen, dass diese Unmenschen ihren Arbeitsplatz verlieren, von ihrem sozialen Umfeld geächtet werden und letztlich isoliert dastehen.
Dass dieses Verhalten mittelalterlich ist, ist den meisten nicht bewußt. Sie hassen die Polizei, die „nichts tut“, sie misstrauen den Gerichten und sie machen die Social-Media-Gesetze, nach denen geurteilt wird. Sie prügeln Netzwerkdurchsetzungsgesetze durch, die ohne sie gar nicht notwendig wären, weil unsere Gesetze gut genug sind, wenn sie denn vernünftig angewendet würden. Und sie schämen sich auch nicht, wenn sich herausstellt, dass sie jemanden zu Unrecht den Arbeitsplatz gekostet haben, wenn sie den falschen Mann die Familie gekostet haben, denn sie sind die Gerechten und die eine oder andere falsche Hexe, die verbrannt wird, muss man halt in Kauf nehmen, wenn man alle Hexen erwischen möchte, nicht wahr?
Dieses Verhalten hat bedauerlicherweise vor allem auf die Regenbogenpresse abgefärbt. In der Hoffnung, als Erster zu berichten, den ersten Artikel vertwittern zu können, damit man die Aufmerksamkeit der Teilnehmer in den sozialen Medien und damit Klicks bekommt, wird oft auf ernsthafte Recherche verzichtet. Umgekehrt, wenn in Social-Media-Nachrichten Gerüchte in die Welt gesetzt werden, kann es gut und gern passieren, dass jemand sich plötzlich einem wirklich abscheulichen Vorwurf ausgesetzt sieht, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was hier eigentlich los ist.
Und so lesen wir in Internet-Erzeugnissen von „Bild“ über „Spiegel“ und „Bunte“ bis hin zur „FAZ“, dass Menschen, die mehr oder weniger bekannt sind, ihre Frauen schlagen, ihre Männer betrügen, ihre Familien verlassen und ihre Fans enttäuschen. Manchmal kann man auch irgendwelche Gerichtsurteile einflechten, die man zwar nicht gelesen hat (ja, noch nicht einmal das Verfahren selbst verstanden hat), aber das macht nichts, solange die Empöreria der Gerechten klickt und teilt, was das Zeug hält. Das bringt Werbeeinnahmen, damit wird sehr, sehr viel Geld verdient.
Ja, und so rutschen wir in eine Desinformationsgesellschaft, denn was mit der Gattin des Präsidenten oder dem Sohn des bekannten Schauspielers klappt, das geht natürlich auch mit Wissenschaftlern und deren Erkenntnissen, das funktioniert mit Politikern, Regierungen, Stadtverwaltungen, Pharmaunternehmen und, und, und. Natürlich glaubt Lenchen, die den schönen Jüngling, der den Liebhaber in ihrer Lieblingssoap spielt, für einen verachtenswerten Vergewaltiger hält, nicht daran, dass in Impfstoffen von Bill Gates hergestellte Chips enthalten sind, das ist ja Blödsinn. Und Hagen, der sich schon deshalb nicht impfen lässt, weil er befürchtet, dass seine Gene verändert werden, ist überzeugt dass oben genannter Jüngling ein überaus guter Mensch ist, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Beide eint, dass sie glauben, was geschrieben steht und ihrer persönlichen Bezugswelt entspricht, verstärkt und multipliziert durch ihre Brüder und Schwestern im Geiste.
Ich fürchte, aus diesem Text spricht eine gewisse Bitterkeit. Ich bin bitter, das ist richtig. Es geht mir unsäglich auf die Nerven, wenn von „Hassrede“ (einer unjuristischen Bezeichnung für das englische Wort „Hatespeech“) gesprochen wird, wenn Gesetze mit glühend heißer Nadel gestrickt werden, um den Mob zu beruhigen. Ja, es ist vollkommen richtig, dass online gemobbt wird, dass einem schwindlig werden kann. Aber das ist tatsächlich ein gesellschaftliches Problem und ein Problem des Umgangs mit dem Medium.
Meinem Bildschirm kann ich alles sagen. Mein Bildschirm ist kein Mensch. Dass am anderen Ende der Leitung ein Mensch sitzen könnte, der mit dem, was ich in meiner Wut in die Textbox an meinem Bildschirm schreibe, nicht zurecht kommt, weiß ich nur in der Theorie. Und so ist ein sehr explosives Gegeneinander entstanden, eine Art Schlacht, in der jeder hingemetzelt wird, der irgendwie anders ist – und das, wo andernorts Diversity sonst großgeschrieben wird. Es ist sozusagen ein Krieg entstanden, in dem um die Hoheit über Meinung und Moral gekämpft wird.
Was da natürlich auch noch wirkt, ist der Gruppenzwang. Mich erinnert das tatsächlich an die Zeiten, da die Kirchen die Deutungshoheit über Moral und Wahrheit hatten. Die Hexenverfolgung habe ich ja schon genannt, da gab es aber noch einiges mehr. Empfohlen sei in diesem Zusammenhang die Lektüre des Buches „Eunuchen für das Himmelreich“ von Uta Ranke-Heinemann. Wir sollten immer im Hinterkopf haben, dass gewisse Verhaltensweisen seit Jahrhunderten, teils seit Jahrtausenden in unser Verständnis von menschlichem Zusammenleben eingebrannt sind und dass diese Verhaltensweisen nicht unbedingt gut für eine moderne, offene Gesellschaft sind.
So etwas verändert sich nicht über Nacht, auch nicht durch äußere Einflüsse oder Formalismen wie die Anpassung der Sprache. Wir laufen also immer Gefahr, auf uns selbst hereinzufallen und die sozialen Medien, die uns zur Verfügung stehen, machen es uns hier wirklich sehr leicht. Was kann uns da also helfen?
Für Medien und Berichterstatter wäre es doch mal quasi alternativlos, auf die guten, alten Regeln für Berichterstattung zurückzugreifen: Mindestens zwei, besser drei seriöse Quellen. Twitter, Facebook oder Instagram können nur dann als Quelle gelten, wenn sichergestellt ist, dass der Accountinhaber sich zitierfähig äußert. Wenn man also so ein Gerücht findet, sollte man nachsehen, ob es irgendwo verläßliche Bestätigungen gibt. Außerdem wäre es meiner Ansicht nach gut, Bericht zu erstatten, wenn es denn etwas zu berichten gibt. Was nützt dem Leser das Wissen, dass gegen die berühmte Schauspielerin angeblich wegen Kaufhausdiebstahls ermittelt wird? Könnten wir die Ermittlungen vielleicht mal abwarten und erst berichten, wenn ein Ergebnis vorliegt? Wenn die schöne, nicht ganz so berühmte Schauspielerin gegen ihren geschiedenen Mann, ebenfalls Schauspieler, den Vorwurf erhebt, er habe sie geschlagen und regelrecht eingesperrt, dann ist das erstmal genau das: Ein Vorwurf, der nicht bestätigt ist. Wenn das aber in irgendeiner „Herzenszeitung“ berichtet wird, dann wird dieser Vorwurf zum Narrativ, zu einer Art Wahrheit und – schlimmer noch – er kann so stehenbleiben. Das liegt in der Pressefreiheit, die natürlich erlaubt, dass Schauspielerin A den Schauspieler B einer nachgerade widerlichen Straftat beschuldigt. Ob das jetzt wirklich wahr ist, ist relativ egal, sie hat das ja gesagt. Also: Vielleicht erstmal mit dem Skandalgeschrei zurückhalten und abwarten, was bei der Story so rumkommt. Kriminell wird es, wenn dann Zivilklagen für Strafverfahren ausgegeben werden und in der Folge Menschen Straftaten nachgesagt werden, für die sie nie vor Gericht standen und schon gar nicht verurteilt wurden.
Für die aktiven Social-Media-Teilnehmer wäre es wirklich wichtig, vor dem Sprung auf die skandalöse Aussage erst einmal die Finger von der Tastatur zu nehmen und sich zu fragen, ob dieser Kommentar, dieser Retweet, diese Weiterverbreitung wirklich notwendig ist. Eine weitere gute Frage, über die man gerne vorher nachdenken darf, ist die, warum man sich über genau diese Meldung genau so aufregt. Welches Gefühl spricht dieser Tweet, dieser Post eigentlich an? Warum habe ich das Bedürfnis, jetzt sofort mit den unflätigsten Beschimpfungen zu reagieren und, wenn es mir möglich ist, der sozialen Zerstörung dessen, von dem die Rede ist? Ich weiß, die Überprüfung der eigenen Reaktionen und des eigenen Denkens ist sehr aus der Mode gekommen. Vielleicht wäre hier ja auch mal wieder eine gute Aufgabe für die Schulen, die Kinder und Jugendlichen nicht nur helfen sollten, Wissen zu erwerben, sondern auch umsichtiges Denken zu lernen.
Letzlich läuft es darauf hinaus, dass wir alle vornehmlich zwei Aufgaben haben: Tief durchatmen und ignorieren lernen. Nur weil alle irgendetwas sagen, heißt das nicht, dass das auch stimmt. Nur weil zwei Wissenschaftler völlig unterschiedliche Standpunkte haben, heißt das nicht, dass der, dessen Standpunkt mir nicht passt, auch der ist, der falsch liegt. Und dann sollten wir uns vor allem eins vor Augen halten: Nur weil etwas schriftlich niedergelegt ist, ist es nicht unbedingt wahr, auch wenn wir von Kindesbeinen an gelernt haben, dass das, was wir lesen können, richtig ist. Geduld haben, abwarten und sich für die Meinungsbildung Zeit lassen ist wichtiger als „ERSTER!“ rufen zu können.
Bleibt cool und seid im Zweifelsfall dann einfach mal Letzter.
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